KdiH

KdiH

_ (der Unterstrich) ist Platzhalter für genau ein Zeichen.
% (das Prozentzeichen) ist Platzhalter für kein, ein oder mehr als ein Zeichen.

Ganz am Anfang und ganz am Ende der Sucheingabe sind die Platzhalterzeichen überflüssig.

ß · © ª º « » × æ œ Ç ç č š Ł ł ́ ̀ ̃ ̈ ̄ ̊ ̇ ̋ ͣ ͤ ͥ ͦ ͧ ͮ Α Β Γ Δ Ε Ζ Η Θ Ι Κ Λ Μ Ν Ξ Ο Π Ρ Σ Τ Υ Φ Χ Ψ Ω α β γ δ ε ζ η θ ι κ λ μ ν ξ ο π ρ σ ς τ υ φ χ ψ ω ͅ ̕ ̔

73. Leben Jesu und Passion

Bearbeitet von Kristina Domanski

KdiH-Band 8

Die unter der Rubrik Leben Jesu und Passion versammelten Werke, die erzählende Darstellungen vom Leben Jesu bzw. von seiner Passion bieten, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander. Die Entstehung der Texte und ihrer Überlieferungsträger reicht mit Otfrids von Weißenburg ›Evangelienbuch‹ von der Mitte des 9. Jahrhunderts (Nr. 73.1.) bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts, als Nikolaus Glockendon in Nürnberg mit der illuminierten Abschrift des Passionstraktates Heinrichs von Sankt Gallen ein buchkünstlerisches Prunkstück herstellte (Nr. 73.11.10.). Dass wie bei Otfrids ›Evangelienbuch‹ die Abfassungszeit des Textes und die Entstehung des frühesten – und in diesem Fall auch einzigen illustrierten – Manuskriptes zusammenfallen, darüber hinaus sogar eine auf den Zeitraum weniger Jahre eingegrenzte Datierung erschlossen werden kann, bleibt eine Ausnahme. Zumeist lässt sich über den Zeitpunkt der Abfassung der Schriften nur mutmaßen, da gewöhnlich die Verfasser, Kompilatoren, Übersetzer und Bearbeiter nicht namentlich bekannt sind. Die Benennung der Autoren, unter denen die Werke geführt werden, ist daher nur in den wenigsten Fällen überzeugend zu belegen. Nach Ava (Nr. 73.2.) und Johannes von Frankenstein (Nr. 73.3.) kann dies nur für Nikolaus Schulmeister (Nr. 73.7.) und Johannes von Zazenhausen (Nr. 73.13.) gelten, da hier entsprechende Prologe oder Widmungsschriften in aussagekräftigem Maße vorliegen.

Nur in den wenigsten Fällen, etwa der ›Interrogatio Sancti Anselmi de passione domini‹, für die Anselm von Canterbury als Verfasser reklamiert wurde (Nr. 73.15.), liegt eine fiktive mittelalterliche Autorzuweisung vor. Bei der überwiegenden Zahl der Autorzuschreibungen handelt es sich dagegen um Zuweisungen der aktuellen literaturhistorischen Forschung, die hier für die Einteilung der Untergruppen beibehalten wurden, wenngleich ihre Grundlage – oftmals nur die Namensnennung in einer späten Abschrift wie bei Michael de Massa (Nr. 73.10.) und Heinrich von Sankt Gallen (Nr. 73.11.) – einerseits denkbar schmal ist, andererseits die Existenz verschiedener, oftmals sehr eigenständiger Bearbeitungen dadurch verschleiert wird. Dies gilt nicht nur für den ›Passionstraktat‹ Heinrichs von Sankt Gallen (Nr. 73.11.), für den die jüngere Forschung jenseits der von Ruh (1940) skizzierten Fassungen nicht nur die Fortführung des Berichtes über den Kreuzestod hinaus, sondern auch eine Vielzahl von Redaktionen durch Kürzungen, Erweiterungen und Umstellungen nachgewiesen hat (Hörner [2016a]; Hörner [2016b]; Hörner [2018]).

Als besonders unwägbar hat sich die Zuschreibungspraxis an die beiden Autoren Ludolf von Sachsen und Michael de Massa erwiesen. Beide sind als Verfasser einer lateinischen ›Vita Christi‹ belegt, doch nehmen die Übersetzer und Kompilatoren gewöhnlich nur Bezug auf den Titel ›Vita Christi‹ oder ›Leben Jesu‹, nicht aber auf deren Verfasser, wie dies etwa an dem ›Spiegel des Leidens Christi‹ zu beobachten ist (Nr. 73.9.). Zum Tragen kommt hier eine Diskrepanz zwischen dem historischen Selbstverständnis der Übersetzer, die ihre Arbeit mit der Absicht begründen, auch ihren nicht lateinkundigen Zeitgenossen den Zugang zu den wichtigen Glaubensgrundlagen eröffnen zu wollen, und dem Bedürfnis nach der Zuschreibbarkeit intellektueller Leistung und der Urheberschaft geistigen Eigentums, das die wissenschaftliche Forschung beherrschte. Bedauerlicherweise findet diese Praxis ihre Fortsetzung für die identifizierten Kompilationen, so dass diese sehr unhandliche Titel tragen (Nr. 73.12., 73.14.). Allerdings scheint auch die Betitelung der Werke nach ihren Initien nicht ausschließlich vorteilhaft, da sich die Schriften, die sich selbst als Evangelien- (Nr. 73.6.) oder Passionsharmonien (Nr. 73.18.) einführen, die Evangelienberichte durchaus in unterschiedlicher Abfolge anordnen und kompilieren können, wie Vergleiche zeigen (Hörner [2012b]). Doch träte die Vielfalt des Bemühens mittelalterlicher Autoren, die divergierenden biblischen Erzählungen und ihre Exegese in volkssprachlichen Schriften aufzubereiten, wohl wesentlich klarer hervor, wenn auf fragwürdige Autorzuschreibungen verzichtet würde.

Denn nicht nur der Zeitraum, den die Stoffgruppe umfasst, weist eine kaum zu überbietende Spannbreite auf, auch die Intentionen der Autoren, Charakter und Struktur ihrer Werke unterscheiden sich erheblich. Dies ist zunächst auf die Abgrenzung der erzählten Zeit zu beziehen, da in der Stoffgruppe Schriften zum Leben Jesu und zur Passion versammelt werden. Anders als die Lebensbeschreibungen gewöhnlicher Protagonisten, seien sie Helden oder Heilige, die mit der Geburt, dem Beginn ihres irdischen Daseins beginnen können, ist jede Erzählung vom Leben Jesu, mithin auch ihr Anfang und Ende, in den göttlichen Heilsplan einzubinden. Eine Leben Jesu-Erzählung kann daher mit der Verkündigung an Maria einsetzen (z. B. Nr. 73.2. Ava), sich am Incipit des Johannes-Evangeliums orientieren (Nr. 73.6. Evangelienharmonie) oder auch einen erklärenden Vorspann zum Ratschluss der Erlösung enthalten (Nr. 73.10. Michael de Massa). Sofern die Kompilatoren neben den Evangelientexten auch apokryphe Quellen verarbeiten, können die Schilderungen ebenso die Vorgeschichte der Eltern Jesu, die Vermählung Mariens (Nr. 73.10.11. Wolfenbüttel) oder gar die Kindheit Mariens und ihre unbefleckte Empfängnis durch Anna mit einbeziehen (Nr. 73.10.3. Frankfurt). In gleicher Weise sind die Schriften zur Passion in der Wahl des Beginns variabel, je nachdem, ob mit dem Beginn der Karwoche der Palmsonntag und die entsprechenden Perikopen als Orientierung gewählt wurden oder erst die späteren Ereignisse in Jerusalem, ab dem Gründonnerstag mit Abendmahl und dem Gebet im Garten Gethsemane. Aber auch schon frühere Ereignisse, der Aufenthalt in Bethanien, die Auferweckung des Lazarus oder das Gastmahl im Hause des Symon, können als zugehörig zur Passion betrachtet werden (Nr. 73.18. Passionsharmonie). Selbstverständlich kommt, was für den Anfang der Lebens- und Passionserzählungen gilt, gleichermaßen für das Ende zum Tragen, denn der Kreuzestod ist zumeist nicht der Abschluss der Erzählung. Die zeitliche Erstreckung des Lebens und Leidens Jesu kann bis zur Grablegung (Nr. 73.7. Schulmeister, 73.15. Anselm), bis zur Auferstehung (Nr. 73.3. Kreuziger, 73.8. Vision, 73.14. Kompilation), aber ebenso bis zur Himmelfahrt (Nr. 73.18. Passionsharmonie) oder darüber hinaus bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten verlängert werden (Nr. 73.2. Ava, 73.13. Zazenhausen). Dies gilt gleichermaßen für den Passionstraktat Heinrichs von Sankt Gallen, dessen Redaktion A (Nr. 73.11.12. Wien) zwar mit dem Kreuzestod Christi endet. In den verschiedenen Bearbeitungen des Passionstraktats wird der Bericht allerdings über die Grablegung, den Abstieg in die Vorhölle bis einschließlich der Auferstehung am Ostersonntag erweitert (Nr. 73.11.15. Zürich) oder sogar über die Himmelfahrt bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes bis Pfingsten verlängert (Nr. 73.11.3. London). Wie sehr die Abgrenzung von Beginn und Ende des Lebens Jesu sowie seine Einteilung in Kindheit, öffentliches Leben und Passion auch als theologische Stellungnahmen begriffen werden sollten, vermag der Titel ›Spiegel des Leidens Christi‹ (Nr. 73.9.) anzudeuten, der zwar eine Passionsschrift ankündigt, gleichwohl die Kindheitsgeschichte enthält und nach der Himmelfahrt Christi in weiteren Kapiteln das Jüngste Gericht und die Beichte behandeln wollte, mithin eigentlich als heilsgeschichtliches Kompendium konzipiert war.

Gewichtiger als die Unterscheidung nach der literarischen Form in Vers- und Prosawerke, die im Großen und Ganzen der bekannten Ablösung der gebundenen Form durch Prosa im Verlauf des 14. Jahrhunderts entspricht, scheint die Differenzierung der inhaltlichen Strukturen und der Intentionen der Verfasser. Schon in karolingischer Zeit wird – im Umfeld der Reformbestrebungen in Fulda – nahezu zeitgleich mit Otfrids ›Evangelienbuch‹ (Nr. 73.1.) eine althochdeutsche Übersetzung des ›Diatessaron‹ des Tatian angefertigt (die nicht in den KdiH aufgenommen wurden, da sich von ihr nur eine Abschrift erhalten hat, deren buchkünstlerische Ausstattung aus Kanontafeln, nicht aus figürlichen Illustrationen besteht). Als Evangelienharmonie präsentiert der althochdeutsche ›Tatian‹ das Konzept einer fortlaufenden Erzählung, in der die biblischen Berichte der kanonischen Evangelien integriert sind, während Otfrids ›Evangelienbuch‹, der exegetischen Praxis des mehrfachen Schriftsinns folgend, auf mehreren Ebenen Lesarten des Geschehens anbietet. Die Anreicherung um exegetische Kommentare findet bei Johannes von Frankenstein (Nr. 73.3.) weitere Nachfolge, doch entstehen gleichzeitig auch Werke wie die ›Admonter Perikopen‹, bei denen es sich um eine mittelhochdeutsche Bearbeitung der Perikopen zur Passion handelt, die statt der vorliegenden Stoffgruppe nunmehr den Lektionaren zugeordnet wurde (Stoffgruppe 75.).

Neben dem Konzept der eng an den biblischen Berichten orientierten Evangelienharmonien (z. B. Nr. 73.6.) bzw. den Passionsharmonien (Nr. 73.18.) verfolgen andere Werke den Ausbau des biblischen Geschehens zu Traktaten, indem sie in scholastischer Tradition zum Teil umfangreiche Kommentare der Kirchenväter einfügen. Dies gilt vor allem für die volkssprachlichen Bearbeitungen, die sich als Vorlage schlicht auf eine ›Vita Christi‹ berufen. Die lateinischen ›Vitae Christi‹, als deren Autoren Michael de Massa und Ludolf von Sachsen bekannt sind (Nr. 73.10.), dienten in der Nachfolge nicht nur dem Heinrich von Sankt Gallen zugeschriebenen Traktat (Nr. 73.11.) und den darauf fußenden Kompilationen (Nr. 73.12., 73.14.), sondern auch den Passionstraktaten Do der minnenklich got (Nr. 73.16.) und An dem mentag und dinstag ging Jhesus aber gein Jherusalem (Nr. 73.17.) als wichtige Quelle. In die Fassung der ›Vita Christi‹, die Ludolf von Sachsen zurecht als Autor benennt, wie es der lateinische Erstdruck von 1474 tut (GW M19194), werden nach jedem erzählenden Abschnitt Gebete eingefügt und damit eine Anleitung zur praktischen Frömmigkeit geboten, die den funktionellen Charakter der Passionsschriften als Andachtsbücher erkennen lassen. Dabei kann der narrative Anteil gegenüber den Gebeten so gering ausfallen, dass die Bezeichnung als ›Passionsbetrachtung‹ (Nr. 73.19. St. Paul) angemessen erscheint. Denn auf diese Weise wird die intentionale Ausrichtung des Textes auf die Beförderung frommer Andacht ebenso deutlich wie die zuweilen fließenden Grenzen zur Gattung der Gebetbücher (Stoffgruppe 43.).

Neben der scholastischen Belehrung gewinnt in der Nachfolge franziskanischer Frömmigkeit und mit dem Streben nach mystischer Versenkung im 14. Jahrhundert die andächtige Vergegenwärtigung des Leidens Christi mit dem Ziel, compassio, also mitfühlendes Nacherleben, hervorzurufen, an Bedeutung. Für die zahlreichen Erweiterungen und Ergänzungen der Evangelienberichte werden neben Übernahmen aus Werken wie den ›Meditationes Vitae Christi‹ auch apokryphe Quellen – etwa die nicht kanonischen Evangelien des Jakobus für das Leben Mariae und des Nikodemus für die Passion Christi – herangezogen. Weitere argumentative Legitimation für die außerbiblischen Schilderungen bieten zudem Visionen, so kann ›Christi Leiden in einer Vision geschaut‹ (Nr. 73.8.) oder als Befragung der Gottesmutter durch einen Heiligen präsentiert werden, wie dies bei der ›Interrogatio Anselmi‹ (Nr. 73.15.) der Fall ist. Die Ausmalung der Grausamkeiten, in denen minutiös die verschiedenen körperlichen Folterungen Christi, z. B. das Wiederaufreißen der Wunden bei der Entkleidung oder die brutale Überdehnung der Gliedmaßen bei der Kreuzannagelung, ausgeführt werden, scheint dabei kaum Grenzen zu kennen.

Mit der zunehmenden Akribie bei der Schilderung der physischen und emotionalen Leiden Christi geht im Verlauf des 14. Jahrhunderts eine eingehendere Beschäftigung mit Maria, der Gottesmutter, einher. Nicht nur ihre Beteiligung am Passionsgeschehen, auch ihr emotionaler Schmerz, ihr Mitleiden als beispielhafte Imitatio Christi, wird zu einem bedeutenden Thema – in Texten wie in Bildern. Eines der eindrücklichsten und frühen Beispiele dieser auf die vorbildliche compassio Mariens ausgerichteten Frömmigkeit bietet der Bilderzyklus zur Passion (Nr. 73.4.), der innerhalb eines Andachtsbuches aus der Zeit um 1330 völlig auf textliche Erklärungen verzichtet, aber das Mitleiden Mariens durch die bildliche Ausgestaltung wie etwa die Parallelisierung ihrer Haltungen und Gesten mit jenen ihres Sohnes in den Bildern vor Augen führt.

Selbstverständlich präsentiert das Andachtsbuch aus der Sammlung Bouhier (Nr. 73.4.1.) mit seinem vollständigen Verzicht auf begleitende Texte für den Passionsteil im Hinblick auf die Bildfunktion eine Ausnahme, da hier allein das Bild als Medium, als vermittelnde Brücke zu innerer, meditativer Schau eingesetzt wird. Doch kristallisiert sich genau darin die wohl von Thomas von Aquin am eindrücklichsten formulierte Überzeugung, die durch Bilder ausgelöste compassio könne dem affectus devotionis zugeordnet werden und zu einer Vertiefung des Glaubens und der Frömmigkeit führen. Den Bildern des Leidens Christi wird damit eine erhebliche und positive Kraft auf dem Weg einer mithilfe von compassio und misericordia zu erlangenden Nachfolge Christi zugeschrieben. Neben dieser Auffassung von der andachtsfördernden Fähigkeit der Bilder, die sich von der bloßen Nützlichkeit bei der Belehrung der illiterati doch eindeutig abgrenzen lässt, ist es für die Einschätzung der bildlichen Ausstattungen der versammelten Handschriften von großer Bedeutung, dass für Darstellungen zum Leben Jesu und zur Passion bereits Jahrhunderte vor der Entstehung der hier vorgestellten volkssprachlichen Texte Bildtraditionen bestanden. In Handschriften und Kirchenräumen, auf liturgischen Geräten, Fenstern, Paramenten und Wänden, als Malerei, Skulptur oder Goldschmiedearbeit haben sich nicht nur lange Zeit vor, sondern auch zeitgleich außerhalb der hier vorgestellten illustrierten Handschriften Darstellungskonventionen etabliert, die nicht allein durch die in ihnen enthaltenen Texte generiert wurden. Für den Bilderreichtum allein in illustrierten deutschsprachigen Handschriften sei neben den diversen Illustrationen zu Bibeln und Bibelerzählungen (Stoffgruppen 14., 15.), den Armenbibeln (Stoffgruppe 16.), Historienbibeln (Stoffgruppe 59.) oder dem ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ (Stoffgruppe 35.) und dem typologisch konzipierten ›Heilsspiegel‹ (Stoffgruppe 120.), auf die Schilderungen des Leben Jesu innerhalb des Marienlebens (Stoffgruppe 85.) und der Weltchroniken (Stoffgruppe 135.), aber auch auf die große Gruppe der Gebetbücher hingewiesen, die umfangreiche Bildzyklen zum Leben und zur Passion Christi enthalten (als Auswahl z. B. Frankfurt a. M., Universitätsbibliothek, Ms. germ. oct. 31, Nr. 43.1.59., Hannover, Kestner-Museum, Inv.-Nr. WM ü 22, Nr. 43.1.69.; München, Cgm 29, Cgm 105, Cgm 113, Nr. 43.1.112., Nr. 43.1.118., 43.1.118a.; Wrocław, Biblioteka Uniwersytecka, I D 37, 43.1.211.).

Die in den Handschriften präsentierten Texte bieten also nicht unbedingt eine ausreichende Erklärung für die Auswahl und Ikonografie der dargestellten Szenen. Oftmals ist nur eine, zudem häufig späte Abschrift des Werks mit Illustrationen ausgestattet (Nr. 73.15., 73.16.). Vielmehr sind ikonografische Traditionen zu berücksichtigen, für die bzw. für deren Wandel sich zuweilen schwerlich überhaupt textliche Grundlagen anführen lassen, wie etwa für den Wechsel vom Viernagelkruzifix zum Dreinageltypus im Verlauf des 12. Jahrhunderts. Für viele Bildthemen aus dem Leben Jesu und der Passion ist eine Bildkenntnis vorauszusetzen, die nicht auf die Erläuterung durch einen unmittelbar begleitenden Text angewiesen ist. Wenn etwa Johannes beim Abendmahl sein Gesicht an der Brust Christi birgt oder mit geschlossenen Augen den Kopf an seine Schulter sinken lässt, so dürfte seine Haltung für einen zeitgenössischen Betrachter in beiden Fällen als Ausdruck seines Mitleidens und Bedauerns über den bevorstehenden Verrat verstanden worden sein, selbst wenn der Text die Verse aus dem Johannes-Evangelium (Io 13,23) nicht explizit ausführen sollte. Des Weiteren ist mit ikonografischen Besonderheiten zu rechnen, die aktuelle zeitgenössische Quellen verarbeiten, sich im dargebotenen Text aber nicht unbedingt niedergeschlagen haben. Ein Beispiel hierfür bietet das Motiv des Christuskindes in einem Strahlenkranz bei der Geburt im Stall, das wohl auf eine Vision der heiligen Birgitta in Bethlehem zurückgeht und in einer Vielzahl bildlicher Darstellungen um 1400 Aufnahme fand. Vorlieben für bestimmte Bildthemen wie etwa die Entkleidung Christi, für die die Evangelien keine textliche Grundlage bieten, die aber in den Passionszyklen des Spätmittelalters gerne und zuweilen auch mehrfach dargestellt wird, lassen sich schwerlich nur aus dem Kontext des Werkes erklären, dem sie als Illustration beigegeben sind. Vielmehr sind sie als historische Phänomene vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Frömmigkeitspraxis zu begreifen.

Anhand der versammelten Handschriften kann und soll daher keine Geschichte der Leben Jesu- oder der Passionsillustration geschrieben werden. Die Spannbreite der materiellen Ausgestaltung reicht von der vor Gold strotzenden Deckfarbenminiatur bis zu dem als Massenware produzierten Holzschnitt, vom Anspruch künstlerischer Inventio bis zur Verwendung vorgefertigter Bildfolgen für die Illustration. Selbst bei zeitnahen Abschriften desselben Textes, die thematisch den gleichen Bildzyklus aufweisen (Nr. 73.10.2., Nr. 73.10.7.), finden sich in der Ausgestaltung der Bildthemen deutliche Unterschiede, die nicht allein aus dem Text zu erklären sind.

Da in vielen Fällen Unklarheiten über die zeitliche Entstehung der literarischen Werke bestehen, insbesondere bei den Schriften des 14. Jahrhunderts sowie deren späteren Bearbeitungen und Kompilationen, schien eine Anordnung der Untergruppen nach der vermuteten Datierung der ›Urschriften‹ wenig sinnvoll. Deshalb wurden die Untergruppen nach der Entstehungszeit des ältesten illustrierten Überlieferungsträgers angeordnet, zumal die Handschriften, selbst wenn Kolophone fehlen, zeitlich wesentlich präziser eingeordnet werden können.