KdiH

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73.4.1. Montpellier, Bibliothèque interuniversitaire, BU médecine, H 396

Bearbeitet von Kristina Domanski

KdiH-Band 8

Datierung:

Um/nach 1330.

Lokalisierung:

Eventuell Sachsen oder Thüringen.

Ausführliche Beschreibung der Handschrift siehe Nr. 65.1.2.; vgl. auch Nr. 75.0.8.

Inhalt:
3. 42r–48v Bilderzyklus zur Passion
I. Kodikologische Beschreibung:

Pergament, 48 Blätter, 97 × 69 mm, Textura, drei Hände und Nachtragshände.

II. Bildausstattung:

14 kolorierte Federzeichnungen auf den Blättern 42r–48v. Ein Maler.

Format und Anordnung:

Die ganzseitigen Illustrationen jeweils mit einem einfachen Rahmen eingefasst: zwei mit Pinsel gezogene Linien, der Zwischenraum gelb koloriert. Im Gegensatz zu den übrigen Faszikeln keine Textbeischriften außer lateinischen Kürzeln zur Angabe der Bildinhalte (z. B. 45v flag...), deren Funktion allerdings unklar bleibt. Es könnte sich um nicht vollständig getilgte Überreste von Maleranweisungen ebenso handeln wie um Text- bzw. Lektüreverweise, als Komplement zu den bildlichen Darstellungen.

Bildaufbau und -ausführung:

Die Figuren füllen den gesamten Bildraum, häufige Überschneidungen des Rahmens durch Extremitäten, Nimben, Kopfbedeckungen oder Attribute lassen das Geschehen vor die Bildbegrenzung treten. Nur sehr spärlich kommen Accessoires, etwa ein Thron oder die Geißelsäule zum Einsatz; der Hügel, auf dem das Kreuz aufgepflanzt wurde (47v), ist eine Abbreviatur, der leere Bildgrund unterstützt die Dominanz der Figuren.

Die Figuren schmal, nahezu körperlos, mit vergleichsweise großen Köpfen und Extremitäten; der Gesichtsausdruck bestimmt durch geschürzte Lippen, die einen ›lieblichen‹ Eindruck erwecken, und eine meist stark bewegte Augenbrauenlinie, um Leiden und Qual anzuzeigen. Die Gesichter der Soldaten, Folterknechte und Juden, auch des Kaiphas, werden gewöhnlich im Profil wiedergegeben. Schon mit der Profildarstellung an sich ist eine negative Konnotation verbunden; die Details, verbunden mit einer gebrochenen Konturlinie, unterstreichen dies: Eine Kerbe über dem Nasenbein, knollige oder gebogene Nasen und ein vorspringendes Kinn gehören ebenso wie eine ungelenke Körperhaltung zu den geläufigen zeitgenössischen Stereotypen für eine pejorative Kennzeichnung und sind nicht als explizit judenfeindlich aufzufassen.

Nach Vorzeichnung und Kolorierung, bei der Rot und Grün sehr deckend eingesetzt wurden, wurden die Konturen, Haar- und Barttrachten sowie Faltenwurf mit Feder und Pinsel in Schwarz nachgezogen, mit geschwungener Linienführung und in wechselnder Stärke.

Die Gewänder in weichen Falten, herabfallende Säume und Gewandzipfel in Kaskaden. Die Innenseite des Stoffes, wenn sie im Faltenwurf sichtbar wird, gewöhnlich in anderer Farbe wiedergegeben. Die Illustrationen bieten kaum kostümgeschichtliche Anhaltspunkte für eine Eingrenzung der Datierung, lediglich die langen, bis über das Knie reichenden Waffenhemden (5r, 46v) sowie die den Kopf umschließenden Kettenhemden bieten Indizien für ein frühe Datierung um 1330. In diese Richtung deuten auch die stilistisch vergleichbaren, ebenfalls mit Federzeichnungen ausgestatteten Handschriften, für die insbesondere einige frühe Exemplare des ›Heilsspiegels‹ infrage kommen (z. B. Wien, Cod. Ser. n. 2612; München, Clm 23433).

Bildthemen:

42r Gebet am Ölberg, 42v Judaskuss, Gefangennahme, 43r Christus vor Annas, Verspottung, 43v Christus vor Kaiphas, der sein Gewand zerreißt, 44r Verspottung Christi mit verbundenen Augen, 44v Christus vor Pilatus, 45r Christus vor Herodes, 45v Geißelung, 46r Dornenkrönung, 46v Kreuztragung in Begleitung von Maria und Johannes, Maria hält das Kreuz mit verhüllter Hand, 47r Kreuzannagelung, Maria gürtet Christus ein Tuch um die Lenden, 47v Kreuzigungsbild, das Kreuz als Baum mit Astansätzen, Maria mit zusammengelegten Händen, Johannes mit Buch deutet nach rechts, 48r Kreuzabnahme, Maria hält die Hände Christi mit ihren verhüllten Händen, Joseph von Arimathia umfasst den Leib mit gleichfalls verhüllten Händen, 48v Grablegung, Maria Magdalena mit Klagegestus, d. h. die Arme über den Kopf erhoben.

Christus und Maria kennzeichnet eine Haltung, in der sich Demut und schmerzliches Leiden verbinden. So zeigt Christus meist eine schmerzerfüllte, trauernde Mimik verbunden mit Gesten der Demut, z. B. nach unten verkreuzten Armen oder zusammengelegten Händen. Die Rolle Mariens, ihre Demut und ihre compassio werden durch Ikonografie und Inszenierung deutlich hervorgehoben. Wiederholt werden ihre Körperhaltung und diejenige Christi parallelisiert (Kreuztragung, Grablegung) oder ihre Körper in großer Nähe zueinander gezeigt (Kreuzannagelung, Kreuzabnahme). Ihre besondere Teilhabe an den Geschehnissen wird zudem durch die Veranschaulichung ikonografischer Details mehrfach unterstrichen, Maria hält bei der Kreuztragung das Kreuz (46v) bzw. bei der Kreuzabnahme den Leichnam ihres Sohnes (48r). Dass sie Körper und Kreuz Christi jeweils mit verhüllten Händen berührt, hebt ihre Verehrung und Demut hervor.

Textliche Entsprechungen für die besondere Beteiligung Mariens während der Passion bieten vor allem die im franziskanischen Umfeld entstandenen ›Meditationes Vitae Christi‹.

Für ihre Annäherung und die Berührung des Kreuzes bei der Kreuztragung besteht eine längere Bild- und Deutungstradition (Wolter-von dem Knesebeck [2001] S. 128–130), auf die wohl die ›Meditationes‹ ihrerseits zurückgreifen konnten (Stallings-Taney [1997] Nr. LXXVII, S. 269, Z. 52–56). Für ihr Eingreifen bei der Kreuzannagelung bietet das Werk allerdings eine geradezu wortwörtliche Übereinstimmung mit der bildlichen Darstellung. Aus Scham und Trauer über seine Nacktheit sei Maria zu ihrem Sohn geeilt und habe ihn eigenhändig mit dem Schleier ihres Hauptes gegürtet (Stallings-Taney [1997] Nr. LXXVIII, S. 271, Z. 16). Auch für die Kreuzabnahme bieten die ›Meditationes‹ eine nahezu wörtliche Entsprechung. Denn dort wird beschrieben, wie Nikodemus die Nägel nacheinander entfernt und an Johannes weiterreicht. Während Nikodemus sich hinabbeugt, um den dritten Nagel, jenen aus den Füßen, zu entfernen, hält Joseph von Arimathia den Leib Christi, Maria aber ergreift die herabhängende rechte Hand Christi – im Bild ist es seine Linke, drückt sie an ihr Gesicht und küsst sie unter Tränen und Seufzern (Stallings-Taney [1997] Nr. LXXIX, S. 280, Z. 115–118).

Die außergewöhnlichen Ikonografien mit ihrer besonderen Integration Mariens in das Passionsgeschehen schaffen damit mehrfach eine Verbindung zu Schilderungen der zeitgenössischen Andachtsliteratur, namentlich zu den ›Meditationes Vitae Christi‹, die in übereinstimmender Weise aktive und emotionale Anteilnahme ausgestalten.

Weitere Materialien im Internet:

Handschriftencensus

Abb. 7: 47r. Kreuzannagelung, Maria gürtet Christus ein Tuch um die Lenden.

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Abb. 7.