Bei der Eingrenzung der Stoffgruppe »Historienbibeln« kann sich der ›Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters‹ auf die grundlegenden Studien von Hans Vollmer berufen. Er definierte den seit dem 14. Jahrhundert auftretenden Texttyp ›Deutsche Historienbibeln‹ in einer auch heute noch als verbindlich empfundenen Form und versammelte in seinen ›Materialien‹ deutsche Prosatexte, »die in freier Bearbeitung den biblischen Erzählstoff möglichst vollständig, erweitert durch apokryphe und profangeschichtliche Zutaten und unter Ausschluss oder doch Zurückdrängung der erbaulichen Glosse darbieten« (Vollmer [1912] S. 5). Mit der Klassifizierung des damals bekannten Handschriftencorpus in 10 Textgruppen schuf er zudem ein praktikables Ordnungssystem, das sich als Rahmen auch für die Katalogisierung und Untersuchung bebilderter Historienbibelhandschriften sehr gut eignet. Es wird im folgenden der Einteilung der Stoffgruppe ›Historienbibeln‹ in Untergruppen (59.1.–59.13.) zugrunde gelegt.
Hauptkriterium für Vollmers Klassifizierung war die Quellennutzung, in der sich die deutsche Historienbibeltradition von vergleichbaren Textformen im europäischen Mittelalter unterscheidet. Sowohl für die bereits seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich einsetzende Überlieferung von historisierenden Bibelbearbeitungen als auch für die jüngeren niederländischen Beispiele war die ›Historia scholastica‹ von vorrangiger Bedeutung. Mit ihr hatte Petrus Comestor im 12. Jahrhundert eine lehrbuchhafte Kombination von biblischer und profaner Geschichtsschreibung geschaffen, für die er neben der Vulgata vor allem die ›Antiquitates Judaicae‹ des Flavius Josephus benutzt hatte. Die französische ›Bible historiale‹ von Guiard des Moulins (1291–1297) ist eine freie Übersetzung der ›Historia scholastica‹ und liegt in zahlreichen äußerst prachtvollen Miniaturhandschriften vor, deren größerer Anteil allerdings eine wiederum um Vulgata-Übersetzungen erweiterte Textversion zugrunde legt (›Bible historiale complétée‹). Im Niederländischen geht die ›Eerste Historiebijbel‹, um 1360 in den südlichen Niederlanden entstanden, in weiten Teilen auf die ›Historia scholastica‹ zurück. Auch der nordniederländischen ›Tweeden Historiebijbel‹ aus dem 15. Jahrhundert liegt neben der Vulgata primär die ›Historia scholastica‹ zugrunde. In der deutschsprachigen Überlieferung greifen nur die mitteldeutschen Historienbibeln V und VI kaum interpolierend auf Petrus Comestor zurück, und dem ersten Redaktor der Historienbibel IIIa hat eine abbreviierende Bearbeitung der ›Historia scholastica‹ vorgelegen. Charakteristisch ist, dass – ganz anders als im französischen und niederländischen Sprachraum – gerade diese Adaptationen nicht (Historienbibel V) bzw. noch nicht illustriert sind (Historienbibel VI: eine Handschrift mit Bildräumen, siehe unten Untergruppe 59.10.) oder sich erst in »Schwellversionen«, in denen zusätzliche Quellen eingearbeitet werden, der Bebilderung öffnen (Historienbibel IIIa, siehe unten 59.7.). Auf Illustrationen verzichten im übrigen auch die niederdeutschen Historienbibeln, sowohl die in zwei Handschriften überlieferte Historienbibel IX, für die Petrus Comestor, vermittelt über Jakobs von Maerlant ›Rijmbijbel‹, zumindest indirekte Hauptquelle war, als auch die von Vollmer als Einzelhandschrift in die Klasse X subsumierte Loccumer Historienbibel (Loccum, Bibliothek des Predigerseminars, Ms. Nr. 6 [alt 131]), für die neben der Vulgata ein weiteres Mal ausgiebig die ›Historia scholastica‹ herangezogen wurde.
Für die meisten anderen deutschen Historienbibeln, zumal die bebilderten, war dagegen der reiche Strom deutscher Weltchroniken stärker Vorbild gebend. Mit ihnen, der ›Weltchronik‹ Rudolfs von Ems oder Chronikkompilationen bis hin zu Heinrich von München, die neben anderen universalhistorischen Quellen Inhalte der ›Historia scholastica‹ bereits seit dem 13. Jahrhundert in die Volkssprache vermittelt hatten, wird im späten 14. und im 15. Jahrhundert die lateinische ›Historia scholastica‹ selbst als Quelle in den Hintergrund gedrängt. Weltchroniken lagen, als die Historienbibeln aufkamen, in zahlreichen opulenten, oft reichhaltig bebilderten Handschriften vor, die in manchen Fällen wohl auch der Illustration von Historienbibelhandschriften als Vorbild gedient oder zumindest Anhaltspunkte geliefert haben. Im Besonderen dürfte dies für die österreichischen Handschriften der Historienbibel IIIb gelten (Untergruppe 59.8.). Gerade diese Handschriften sind in ihrem Anspruchsniveau besonders eng verwandt mit Weltchronikhandschriften; andererseits zeigen sich aber hier mit der – wenn auch nicht konsequent durchgeführten – Aufnahme von historisierten Initialen, die die biblischen Bücher mit Darstellungen der entsprechenden biblischen Gestalten einleiten, auch Anklänge an die Vulgata-Illustration, denn Prophetenbilder etwa fehlen in der Weltchronistik gänzlich.
Je nach Entstehungszeit, Verbreitungsregion und Adressatenschicht der jeweiligen Historienbibel-Redaktion entstehen daneben Bilderzyklen sehr unterschiedlichen Umfangs und Niveaus. Nur zum Teil bilden sich hierbei versionsspezifische Besonderheiten heraus. Sehr heterogen sind die Handschriften der frühen Nürnberger Historienbibel Ia bebildert (Untergruppe 59.1.). Dagegen ergeben die Handschriften der Elsässischen Historienbibeln IIa (59.4.) und Ib (59.2.) ein jeweils ausgesprochen homogenes Bild, was nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass nahezu alle Handschriften im Werkstattzusammenhang Diebold Laubers, dessen Umfeld und dessen Nachfolge entstanden sind, sondern auch darauf, dass hier offenbar versucht wurde, textspezifische Signale zu setzen, und zwar besonders markant dort, wo es um die Verklammerung des neutestamentlichen mit dem alttestamentlichen Teil der Historienbibel geht: In den IIa-Handschriften ist dies zum Beispiel die Kreuzigungsdarstellung mit Ecclesia und Synagoge ( Saurma-Jeltsch [2001] Bd. 1, S. 189 f.), in den Ib-Handschriften die allegorische Darstellung des Stammbaums Marias (Rapp [1998] S. 318–331). Ein vergleichbares Signal weisen aber auch die IIIb-Handschriften (59.8.) mit der Dreifaltigkeitsdarstellung auf (siehe unten S. 125 f.); charakteristisch für sie ist ferner die ungewöhnlich ausführliche Schilderung der alttestamentlichen Heiligtümer und Kultgeräte: Bundeslade, Schaubrote, Opfergefäße, siebenarmiger Leuchter, Stiftshütte werden detailreich im Bild präsentiert. Ob sich diese Bildsignale als Hinweise auf bestimmte spirituelle Entstehungsmilieus deuten lassen können, ist bislang noch nicht überzeugend geklärt. Für die bebilderten deutschen Historienbibeln lässt sich auch unter Schreibern, Auftraggebern und Besitzern kein Umfeld konturieren, das etwa dem der niederländischen ›Historiebijbeln‹ vergleichbar wäre. Deren Adressatenkreise waren, wie Sandra Hindman (1977, S. 16) zusammenfasst, seit dem Ende des 14. Jahrhunderts wesentlich von der nordniederländischen Devotio Moderna geprägt. Die bebilderten deutschen Historienbibeln befinden sich im 15. Jahrhundert in wenig spezifischem Laienbesitz. Einige sind von Laienhand als Dilettantenarbeiten zum Eigenbedarf angefertig worden (z. B. ›Die neue Ee‹: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 246: Nr. 59.13.2.), vor allem die österreichischen Historienbibeln (IIIb: Untergruppe 59.8.) sind in Adelskreisen beheimatet, und die elsässische Historienbibel IIa (59.4.) wird von Diebold Lauber als »Markenartikel« an ein adelig-städtisches Publikum vertrieben. Als einzige Handschrift könnte ausgerechnet eine Lauberhandschrift – Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 1 (Nr. 59.4.4.) – in frühem Klosterbesitz lokalisiert werden. Für ein besonderes Interesse religiöser Reformbewegungen an deutschen Historienbibeln (Reformklöster, semimonastische Frauengemeinschaften o. ä.) finden sich hingegen keine Anzeichen.
Mit Ausnahme der Einzelhandschriften (Vollmer: Klasse X, Untergruppe 59.12.) herrschen in der Bebilderung der Historienbibeln umfangreiche, in manchen Versionen geradezu extensive Zyklen von gelegentlich über 500 Bildern (Historienbibel IIIb: Nr. 59.8.4., Nr. 59.8.7.; Historienbibel VII: Nr. 59.11.1.), im Einzelfall sogar über 800 Bilder vor (Historienbibel Ia: Nr. 59.1.1., nur zum alttestamentlichen Teil!). Für die besonders umfangreichen Zyklen ist die Platzierung meist kleinformatiger Bilder im Textkontinuum kennzeichnend; damit verschafft sich das Bedürfnis Ausdruck, eine in Schrift und Bild fortlaufende Geschichte zu kreieren (Historienbibel Ia, IIIa, IIIb). In anderen Historienbibelversionen gibt es im Umfang bescheidenere und in ihrer Anordnung stärker gliedernde Zyklen: Großformatige, häufig ganzseitige Bilder werden mit eigenen Beischriften meist zu Beginn eines Kapitels eingefügt und präsentieren sich so als selbständiges, den Text mehr ergänzendes als in ihn integriertes Medium (Historienbibel Ib, Ic, IIa, IIb). In Einzelfällen werden andere Bild-Text-Kombinationen realisiert; so scheint die Werkstatt, in der die Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 60 (Nr. 59.9.1.: Historienbibel IV) hergestellt wurde, zunächst eine Art Bilderbibel projektiert zu haben, in der eine fortlaufende Bilderreihe vom Begleittext kommentiert wird. Das Vorhaben wurde jedoch im Fortgang der Arbeit zugunsten eines narrativen Typs aufgegeben. Durchgehalten hat man es in der Handschrift Würzburg, Universitätsbibliothek, M.ch.f. 116 (Nr. 59.6.1.: Historienbibel IIc), die einem Heilsspiegel ähnlich angelegt ist.
Viel ausgeprägter als in der französischen und niederländischen Historienbibeltradierung ist in der deutschen das Bedürfnis, die Erzählung biblischer Geschichte nicht nur bis zur Zerstörung Jerusalems, sondern weit über das neutestamentliche Geschehen hinaus bis in die mittelalterliche Papst-Kaiser-Geschichte hinein fortzusetzen, bzw. sie im eschatologischen Sinne bis zur Endzeit zu verfolgen. Schilderungen über das Jüngste Gericht und den Antichrist enthalten die Historienbibeln Ia, Ib, IIc und die Einzelhandschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 522 (59.12.3., 59.13.3.). Sie rücken hiermit in die Nähe einer Sonderform deutschsprachiger Weltchronistik, der sogenannten ›Konstanzer Weltchronik bis 1370‹ nämlich, die mit einem beträchtlichen alttestamentlichen Anteil beginnt und an den realhistorischen Schluss mit dem Bericht über das Erdbeben von Basel 1356 und die jüngste Geschichte des Bistums Konstanz die Apokalypse, den ›Endkrist-Bildertext‹ und die ›Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht‹ anschließt (acht Handschriften, darunter die neuerdings in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrte Bilderhandschrift Berlin, Staaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1714).
Auch die Entstehung einer nur auf den neutestamentlichen Geschichtsteil beschränkten ›Neuen Ee‹ (59.13.) beschreibt einen deutschen Sonderweg. Das Marienleben und das Leben Jesu werden um Berichte zum Leben des Herodes, des Judas, des Pilatus ergänzt; neben dem Bibelgeschehen liegt der Akzent deutlich auf der Verquickung von jüdischer und römischer Geschichte. Bilderzyklen reichen bis zur Zerstörung Jerusalems im Bar-Kochba-Aufstand und zum Neubau Jerusalems als römische Stadt. Nur diese Historienbibelversion wurde unverändert in den Druck übernommen und erreicht, meist gekoppelt an die Übersetzung der ›Historia trium regum‹ des Johannes von Hildesheim, mit acht bekannten Ausgaben eine bedeutende Breitenwirkung bis ins 16. Jahrhundert hinein.
Hinweise zur Benutzung:
1. Die Schreibweise biblischer Namen richtet sich zwecks besserer Recherchierbarkeit nach der ›Einheitsübersetzung‹ der Bibel und nicht nach dem Wortlaut der jeweiligen Historienbibelversion. Gleiches gilt für die Bezeichnung der biblischen Bücher, sofern die Vulgataeinteilung gemeint ist. Dies kann in Einzelfällen dazu führen, dass mehrere Namenformen nebeneinander stehen: z. B. ›Ijob‹ als biblischer Name neben dem ›Hiob‹ des Österreichischen Bibelübersetzers.
2. In den Handschriftenbeschreibungen wurde angesichts des Umfangs der meisten Bilderzyklen darauf verzichtet, sämtliche Blattangaben der Bildstellen aufzulisten. Bildthemenlisten können über die Redaktion angefragt werden.
3. Angesichts der vielfältigen Digitalisierungsprogramme der Bibliotheken wurde ebenfalls darauf verzichtet, auf Voll- oder Teildigitalisate der beschriebenen bebilderten Handschriften hinzuweisen, die zum Zeitpunkt der Bearbeitung im Netz zugänglich waren. Diese werden in der KdiH-Datenbank ergänzt.