Beim ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ handelt es sich um eine sprachlich ungemein kompetente Übersetzung von Evangelientexten. Diese sind in Lesungsabschnitte gegliedert, denen bei zentralen Perikopen prophetische Worte aus dem Alten Testament (und deren Deutung durch den Autor) vorangestellt sein können. An den eigentlichen, vielfach »puzzleartig« harmonisierten Evangelientext schließt sich die Glosse des Autors an, über deren Quellen bisher wenig bekannt ist. Zahlreich und weit gestreut sind die Bezüge zur exegetischen Literatur, bedrückend aber ist die – wohl selbst über das Normalmaß des 14. Jahrhunderts hinausgehende – antisemitische Grundhaltung (vgl. Niesner, S. 159 ff., 298–301), die jedoch – bemerkenswerter Weise – nicht signifikant die Illustration erfaßt. Apokryphe Teile zur Kindheit Jesu, zur Geschichte des Judas und aus dem ›Evangelium Nicodemi‹ (Editionen: Gärtner [1976], Ohly [1976], Masser/Siller [1987], jeweils mit Angaben zu den Quellen) sind vom biblischen Text klar separiert und gleichsam Teil der ausdeutenden Glosse. Dies gilt auch für die Marienklagen und andere kurze Passagen, deren Quellen zumeist noch nicht festgestellt sind.
Der Autor wurde als ›österreichischer Bibelübersetzer‹ notgetauft, zuletzt brachte Gisela Kornrumpf den Namen Wolfhart ins Spiel, der in zwei Überlieferungen der Erstfassung aufscheint (Kornrumpf [1999]). Er war im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts tätig und bezeichnet sich als Laie. Ihm können auch Übersetzungen großer Teile des alten Testaments (›Schlierbacher Altes Testament‹) und der Psalmen (mit Kommentar) zugeschrieben werden. Zu seinem Werk vgl. Kornrumpf (1991) S. 115 f.; Gärtner (1993) S. 275 f.; Knapp 2/1 (1999) S. 215–233; Kornrumpf (2004).
Das Evangelienwerk ist in zwei Fassungen überliefert, die beide auch in illustrierten Codices vorliegen. Die Göttweiger Handschrift (Nr. 35.0.1.), die der Erstfassung angehört, ist mit einigen bescheidenen Initialen versehen, die bloß Köpfe oder Halbfiguren enthalten. Zwar ist in vielen Fällen von einem Textbezug auszugehen, eine szenische Umsetzung erfolgte jedoch nur in Ausnahmefällen (z. B. bei Zachäus). Ob Fragmente des 14. Jahrhunderts, die ebenfalls der Erstfassung angehören (Nr. 35.0.3.) und mit Deckfarbeninitialen ausgestattet sind, eventuell auch historisierten Buchschmuck enthielten, ist derzeit nicht zu entscheiden.
Die älteste Überlieferung einer überarbeiteten Fassung des Evangelienwerkes (Schaffhausen, Nr. 35.0.5.) nennt das Jahr 1330. Das umfangreiche Bildprogramm dieses Codex ist aus stilistischen Gründen kaum später als 1330 entstanden. Die Randillustrationen wurden schon von Stange (1932) in ihrer Bedeutung erkannt. Während der Neißer Codex (Nr. 35.0.4.) als Kopie von Schaffhausen anzusprechen ist, bedient sich Heinrich Aurhaym im Klosterneuburger Cod. 4 (Nr. 35.0.2.) historisierter Initialen, die – ihrer Funktion am Beginn der jeweiligen Abschnitte entsprechend – einen Hauptaspekt des Kapitels gleichsam als Titelbild illustrieren.
Der Reichtum und die Verschiedenartigkeit der Illustration des Klosterneuburger Evangelienwerkes sind bemerkenswert. So wie die gesamte Überlieferung konzentrieren sich die hier behandelten illustrierten Codices auf den österreichischen Raum.
Literatur zu den Illustrationen: Kurt Gärtner: Zur neuen Ausgabe und zu neuen Handschriften der ›Kindheit Jesu‹ Konrads von Fussesbrunnen. ZfdA 105 (1976), S. 11–53 [S. 21–39: Edition der Prosafassung nach Schaffhausen, 20r–29r]; Friedrich Ohly: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit Schuld. Opladen 1976 [S. 140–143: Edition der Judaslegende nach Schaffhausen, 223r–224v]; Kurt Gärtner: ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹. In: 2VL 4 (1983), Sp. 1248–1258; Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa. Texte. Hrsg. von Achim Masser und Max Siller. Heidelberg 1987 (Germanische Bibliothek 4) [S. 396–444: Edition von Schaffhausen, 248v–304v (mit Lücken)]; Gisela Kornrumpf: Das ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ des österreichischen Anonymus. Datierung, neue Überlieferung, Originalfassung. Vestigia bibliae 9/10 (1991), S. 115–131; Kurt Gärtner/Bernhard Schnell: Die Neisser Handschrift des ›Klosterneuburger Evangelienwerks‹. Ebd., S. 155–167; Kurt gärtner: Die erste deutsche Bibel? Zum Bibelwerk des österreichischen Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Mit zwei neuen Handschriftenfunden zum ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ und zum ›Psalmenkommentar‹. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Horst Brunner und Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 13), S. 273–295; Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1272–1439. I. Halbband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358. Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2/1), S. 215–233; Gisela Kornrumpf: Wolfhart. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1361–1363; Gisela Kornrumpf: Das ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ des Österreichischen Bibelübersetzers. Bemerkungen zur Erstfassung anhand von Wülckers Fragment. In: Magister et amicus. Festschrift Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Václav Bok und Frank Shaw. Wien 2003, S. 677–688; Gisela Kornrumpf: Österreichischer Bibelübersetzer. In: 2VL 11 (2004), Sp. 1097–1110; Manuela Niesner: »Wer mit juden well disputiren«. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (MTU 128), S. 51–301 [zum Österreichischen Bibelübersetzer S. 51–159, zum Evangelienwerk S. 159–301); Alison L. P. Beringer: Word and Image in the Klosterneuburger Evangelienwerk. Manuscript and Cultural Context for the Vernacular. PhD Princeton 2006.