87. Medizin
Bearbeitet von Pia Rudolph
KdiH-Band 9
Die in der Stoffgruppe Medizin beschriebenen Handschriften lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen gibt es die medizinischen Texte, die auf astronomischen Berechnungen beruhen, wodurch die Behandlung des Patienten von den Gestirnen und Einflüssen des Makrokosmos vorgegeben wird (Iatromathematik; grundlegend:
Hiervon zu unterscheiden sind zum anderen die Handschriften und Werke, in denen keine Kalender vorausgehen: das ›Secretum secretorum‹ (Nr. 87.4.), frauenmedizinische Traktate (Nr. 87.5.; vgl. hierzu auch Nr. 87.3., da sich ein Kapitel aus Laufenbergs ›Regimen‹ dieser Thematik widmet) oder erneut medizinische Sammelhandschriften (Nr. 87.6.).
Alle medizinischen Sammelhandschriften und das ›Iatromathematische Hausbuch‹ beinhalten neben astrologisch-astronomischen Ausführungen vor allem Texte zur Prognostik und Diätetik, zum Aderlass, zur Pest (ein Kapitel zur Pest auch bei Laufenberg, Nr. 87.3.), zum Baden und zum Urin. Dabei werden oft Auszüge aus der ›Regel der Gesundheit‹ von Konrad von Eichstätt (Nr. 87.1., Nr. 87.1.12., Nr. 87.2.6., Nr. 87.2.21., Nr. 87.2.27.;
Es ist anzunehmen, dass die Rezipienten der hier behandelten medizinischen Handschriften Laien waren (nicht wie lange angenommen Wundärzte o. ä.) und dass »mit dem Wechsel der Sprache vom Lateinischen zum Deutschen auch eine Änderung des Rezeptionsraums (des Sitzes im Leben)« einhergeht (
In den Untergruppen Nr. 87.1.–87.3. geben v. a. die astronomischen Berechnungen die Illustrierung vor, so dass häufig die Tierkreiszeichen, Monatsarbeiten oder sieben Planeten abgebildet sind (vgl. auch Stoffgruppen 11. Astrologie/Astronomie und 65. Kalender). Es liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Planeten jene Menschen regieren, die unter ihrem Stern geboren worden sind (sog. Planetenkinder), was bedeutet, dass sie Einfluss auf ihren Charakter und ihre Gesundheit nehmen. Hinzu kommt die häufige Darstellung von wichtigen medizinischen Praktiken und Anwendungen (Diätetik) wie dem Aderlass, dem Schröpfen und dem Baden. Für die körperliche Gesundheit spielte nach damaliger Vorstellung zudem die Ernährung, Bewegung und eine maßvolle Lebensführung eine entscheidende Rolle, weshalb das Essen und Trinken sowie sportliche Aktivitäten (z. B. Ringen) Gegenstand der Texte sind und illustriert wurden. Auf die bedeutende Viersäftelehre oder Humoralpathologie, in der der Mensch auf seinen in ihm dominanten Körpersaft hin behandelt wurde (Blut, schwarze oder gelbe Galle, Schleim), verweisen die Darstellungen der vier Temperamente (auch Komplexionen genannt). Der Sanguiniker hat nach dieser Theorie, die auf die antiken Ärzte Hippokrates und Galen zurückgeführt wird, einen Überschuss an Blut, der Melancholiker an schwarzer Galle, der Choleriker an gelber Galle und der Phlegmatiker an Schleim. Die Körpersäfte waren nach Möglichkeit im Gleichgewicht zu halten, sonst drohte Krankheit. Das Temperament galt als über die Blut- oder Urinschau bestimmbar, wobei der Arzt die Farbe, die Konsistenz, den Geruch etc. des abgelassenen Bluts oder des frischen Urins zu beurteilen hatte (
In allen Untergruppen anzutreffende medizinische Illustrationen sind der Aderlassmann, der Zodiakusmann, die Urinschau und der Aderlass. Letztere Behandlungsformen wurden durch den Mediziner, Wundarzt oder Bader durchgeführt. Die Unterscheidung zwischen dem an der Universität ausgebildeten Arzt, dem Wundarzt und dem Bader ist anhand der Darstellungen nicht möglich, so dass in den Beschreibungen auf eine genauere Festlegung verzichtet und immer vom Arzt oder Mediziner gesprochen wird. Im Bild können sie durch verschiedene Attribute wie die rote Mütze (die sog. Cappa), einen langen Mantel und ein Uringlas gekennzeichnet werden.
Die Bildformel des Aderlassmanns entwickelte sich nach
Der Zodiakusmann (auch Homo signorum oder Tierkreiszeichenmann; siehe
Wird der Aderlass selbst dargestellt, geschieht das auf anschauliche Weise: Häufig ist es eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt und der von einem Arzt (oder Bader) eine Vene am Arm mithilfe einer Fliete geöffnet wird. Um Druck zu erzeugen, hält die Patientin einen Lassstab in der Hand, das Blut wird in einem Becher aufgefangen (
Die im Unterschied dazu häufig dargestellte Uroskopie wird durchgeführt, indem der Arzt ein Glas mit Harn gegen das Licht hält und so Farbe und Konsistenz analysieren kann. Diese Tätigkeit ist besonders signifikant für die Darstellung des Berufs des Mediziners (
Es gibt eine Vielzahl sehr heterogener medizinischer Sammelhandschriften. Sie sind typischerweise durch einen Aderlassmann oder etwas seltener durch einen Zodiakusmann markiert. Neben diesen Bildtypen sind auch andere Abbildungen zu finden, wie der Wundenmann, chirurgische Instrumente, Personifikationen oder Heilige (sie sollten den Besitzer oder die Besitzerin vor Krankheiten schützen). Zu Harntraktaten in medizinischen Sammelhandschriften können diagrammartige Gläser abgebildet sein. Da diese bis zu 21 verschiedene Urinfarben beschreiben, können auch entsprechend viele Gläser skizziert werden, die häufig unkoloriert blieben. Diese Gläser sind meist direkt neben dem Text dargestellt, können aber ebenso gemeinsam in einem Urinfarbkreis (siehe auch Nr. 87.5.3.), einer Harnschautafel oder sogar an einem Baum angeordnet sein.
Weil die Texte in solchen Sammelhandschriften praktisch unerforscht sind und nur selten einzelne Textbausteine benannt werden können, werden sie nicht in einzelnen Katalogisiaten aufgenommen, sondern hier nur aufgelistet. Die Abbildungen werden (mit Ausnahme von – auch aufwendiger gestalteten – Tabellen, Diagrammen und Zeichnungen zu Sonnen- oder Mondphasen) angegeben; wenn der zum Bild gehörende Text identifiziert ist, wird dieser benannt:
- Aarau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsZQ 57, 103r und 106v jeweils ein Harnglas
- Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4º Cod. 122, 16v–23r Harngläser (auf 19v koloriert) zu Exzerpten aus Ortolf von Baierland, ›Arzneibuch‹; außerdem wird auf 24v durch zwei Hände skizziert, wie ein Pulsgriff durchzuführen ist
- Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 266, 69v Zodiakusmann (ohne Darstellung der Tierkreiszeichen auf dem Körper, dafür Beischriften mit Hinweis auf Körper und Organe; siehe Nr. 11.2.1.)
- Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 1470, Vorderdeckel–1r als Baum (quer) über eine Doppelseite dargestellt: 18 Gläser mit verschiedenen Harnfarben (koloriert) und Schriftbändern
- Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 297, S. 369 Aderlassmann (siehe auch Nr. 87.1.)
- Gent, Universiteitsbibliotheek, Hs. 1414, 4v–5r Zodiakusmann (quer) über eine Doppelseite zum sog. Genter Aderlassbüchlein
- Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 5, 13v Aderlassmann, daneben drei Becher mit Blut wohl für eine Blutschau (die Buchstaben um den Kopf, die mit den Aderlassstellen am Körper verbunden sind, geben den Eindruck eines Heiligenscheins)
- Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 526, 109v–115r Harngläser
- Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 558, 39r–43v Harngläser; 129v Aderlassmann
- Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 76, 15v Aderlassmann (in die Handschrift eingebunden)
- Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 503, 311r Aderlass-Szene
- London, The British Library, Arundel 306, 29v Aderlassmann
- London, Wellcome Library, MS.49, 34r–45v: 35r Wundenmann (deutsch), weitere medizinisch-astrologische Darstellungen (lateinisch) (siehe Nr. 9.1.9. sowie
Auer /Schnell [1993]) - Los Angeles, UCLA, Louise M. Darling Biomedical Library, Benjamin collection, Ms. 5, 3r–5r 20 eingeklebte Harngläser (koloriert), 2v–15v 47 Harngläser zu verschiedenen Traktaten (teilweise koloriert)
- Los Angeles, UCLA, Louise M. Darling Biomedical Library, Benjamin collection, Ms. 11, 256r–257v Harngläser
- Metz, Bibliothèques-Médiathèques de Metz, ms. 176, 124r chirurgische Instrumente
- Michaelbeuern, Stiftsbibliothek, Man. cart. 203, 201r Aderlassmann zum ›Vierundzwanzig-Paragraphen-Text‹
- München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 317, 130r Aderlassmann (zwischen nicht-medizinischen Texten, wobei die heterogene Sammelhandschrift auch Texte zum Aderlass enthält)
- München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 398, 278r Venus mit Waage und Stier (am Ende eingeklebt)
- München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 430, 15v Zodiakusmann
- München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 727, 22r–32v Harngläser
- München, Universitätsbibliothek, 8o Cod. ms. 339, 94v Zodiakusmann (eingeklebter Holzschnitt); 130v Aderlassmann (siehe Nr. 11.4.36. und künftig Stoffgruppe 103a. Prognostik)
- München, Universitätsbibliothek, 4o Cod. ms. 745, 65v Zodiakusmann (siehe Nr. 11.3.2.)
- München, Universitätsbibliothek, 4o Cod. ms. 885, 8r Aderlassmann
- New York, The Morgan Library & Museum, MS M.900, 119r junge Frau, die eine Urinschau durchführt: Ars Medicinalis; 119v junger Mann mit roter Cappa und Trinkgefäß: Ypocras (zwei Personifikationen für die Medizin)
- Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs 7082: Fragment mit der Darstellung des Magister Ptolemäus zu einem Text über das Blut sowie zwei Illustrationen zum Fragment von den 36 Sternbildern (nach Michael Scotus)
- Praha, Národní Knihovna České republiky, XXIII.F.129, 427r Zodiakusmann; 433v Aderlassmann; daneben fünf Naturselbstdrucke und drei Pflanzenbilder
- Salzburg, Bibliothek der Erzabtei St. Peter, Cod. a VII 12, 120v–121r Harngläser (koloriert); 123vb Aderlassmann
- Salzburg, Universitätsbibliothek, M I 138, 259v Aderlassmann (siehe Nr. 13.0.22.)
- Salzburg, Universitätsbibliothek, M III 3, 46r und 49r jeweils ein unbeschrifteter Aderlassmann zum ›Oberdeutschen Aderlassbüchel‹; 74v Harnschautafel zu Harnbuch, Aegidius von Corbeil zugeschrieben (siehe Nr. 11.4.40.)
- Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XI 44, 1r Aderlassmann
- Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2826, 179v Aderlassmann zum ›Vierundzwanzig-Paragraphen-Text‹ (siehe Nr. 70.2.8.)
- Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 18.18 Aug. 4o, 124v nackter Mann, wohl unvollständiger Aderlassmann am Ende von Ortolf von Baierland, ›Arzneibuch‹
- Wrocław (Breslau), Biblioteka Uniwersytecka, Cod. III Q 1, 93v Aderlassmann
- Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 161, 21r Aderlassmann (siehe Nr. 81.0.13.)
- Zürich, Zentralbibliothek, Ms. B 245, 6r Teigdruck von einem Heiligen, der wohl ein Uringlas hält (Cosmas oder Damian?) am Beginn der medizinischen Sammelhandschrift zu Ortolf von Baierland, ›Arzneibuch‹
- Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Z VII 287, 46r Aderlassmann
Es sei an dieser Stelle noch auf die Stoffgruppe 49a. Hausbücher verwiesen. Auch dort sind in Handschriften, die allerdings nicht primär zu medizinischen Zwecken entstanden sind, Darstellungen aus dem Bereich der Medizin zu finden, wie Aderlassmänner (Nr. 49a.2.1.) oder chirurgische Szenen (Nr. 49a.5.1., Nr. 49a.5.2.). Auch die Stoffgruppe 70. Kräuterbücher ist als medizinischer Komplex zu betrachten, da Kräuter auf ihre heilbringende Wirkung hin beschrieben wurden.