26A.2. Augsburg: Sigismund Meisterlin,
›Augsburger Chronik‹, deutsch
Bearbeitet von Norbert H. Ott
KdiH-Band 3
Anreger der ›Augsburger Chronik‹ Sigismund Meisterlins (um 1435 – um 1500) war der Augsburger Frühhumanist Sigismund Gossembrot (1417–1493), dem der damalige professus des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra am 20. 6. 1456 mit seiner lateinischen Fassung – der ›Chronographia Augustensium‹ – den ersten, ansatzweise auf Quellenkritik beruhenden, historiographischen Text an der Schwelle vom Mittelalter zum Humanismus widmete. Auftraggeber wie Autor ging es vor allem um eine Revision der von Küchlin behaupteten Gründungs- und Frühgeschichte der Stadt; gestützt auf antike und mittelalterliche, in Augsburger Bibliotheken exzerpierte Quellen – Sueton, Isidor, Frutolf-Ekkehard, Otto von Freising, Enea Silvio Piccolomini –, die er jedoch eher zu einem Zitatengeflecht verband statt sie kritisch auszuwerten, schrieb Meisterlin eine bis in seine eigene Gegenwart reichende, in den Ablauf der deutschen Geschichte integrierte Stadtgeschichte. Schon ein halbes Jahr später hatte Meisterlin seine bis Ludwig den Bayern reichende, ebenfalls von Gossembrot initiierte deutsche Fassung abgeschlossen, die er am 4. 1. 1457 dem Augsburger Rat dedizierte.
Während die lateinische Fassung unillustriert blieb, ist nahezu die Hälfte der unmittelbar nach Abschluß der Übersetzung einsetzenden und auf den Augsburger Adressaten- und Benutzerkreis beschränkten Überlieferungszeugen der volkssprachlichen Version mit Initialschmuck und/oder Bilderzyklen ausgestattet. Die offiziöse, 1457 im Auftrag Sigismund Gossembrots von dem Konventualen in St. Ulrich und Afra, Heinrich Pittinger, geschriebene Pergamenthandschrift 2o Cod. Aug. 60 der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek (Nr. 26 A.2.1.) leitet die Einzelkapitel mit rankengeschmückten Initialen, z. T. in Gold, ein und stellt der Vorrede unter einer goldenen W-Initiale ein Dedikationsbild voran: Meisterlin überreicht seinem Mentor Gossembrot vor dem Hintergrund der Stadt Augsburg ein Exemplar seiner Chronik; Wappen und Schriftbänder identifizieren Autor und Auftraggeber. Ebenfalls mit einer historisierten Initiale – eine Stadtansicht unter Sternenhimmel im Buchstaben-Binnenraum – beginnt die lateinische Fassung im Codex HS 158/4 der Stiftsbibliothek St. Paul im Lavanttal (Nr. 26A.2.8.) von 1457; mit z. T. goldbelegten, gerahmten Initialen und Blütenranken sind die Kapitelanfänge sowohl der ›Chronographia Augustensium‹ als auch der unmittelbar darauf folgenden deutschen Fassung hervorgehoben. Lediglich vier Deckfarbeninitialen mit Blatt- und Blütenranken enthält das im gleichen Jahr 1457 ebenfalls von Pittinger geschriebene Ms. Savigny 28 der Staatsbibliothek zu Berlin (Nr. 26A.2.6.), dazu drei leere Seiten zwischen Register und Vorrede, die möglicherweise für Titelminiaturen vorgesehen waren. Vermutlich Illuminator aller drei Handschriften war der Konventuale Johannes Franck.
Vier Handschriften (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. H. 1 [Nr. 26A.2.3.]; ebd. 4o Cod. Aug. 1 [Nr. 26A.2.4.]; München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 213 [Nr. 26A.2.7.]; Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB V 52 [Nr. 26A.2.9.]) sowie ein auf mehrere Sammlungen verteilter Codex discissus (Nr. 26A.2.5.) enthalten ikonographisch eng verwandte Illustrationszyklen, die nur in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander entstanden sein können. Am Anfang steht der von Februar bis April 1457 – also unmittelbar nach Meisterlins Dedikation seiner deutschsprachigen Fassung an den Augsburger Rat – von Georg Mülich geschriebene Stuttgarter Codex (Nr. 26A.2.9.) mit einem Zyklus von 13 z. T. ganzseitigen kolorierten Federzeichnungen. Am 4. Juni des gleichen Jahres beendete Georgs Bruder Hector seine Handschrift der Chronik (Augsburg, 2o Cod. H. 1 [Nr. 26A.2.3.]), die er um ein selbstverfaßtes 5. Buch erweiterte und mit 29 kolorierten Federzeichnungen illustrierte; lediglich die beiden ganzseitigen Deckfarbenminiaturen zu Beginn – der Reichs-Doppeladler mit dem Augsburger Stadtwappen und eine Titelminiatur, die die Dedikation der Chronik an den Rat mit einer Wappenrepräsentation kombiniert – stammen nicht von seiner Hand. 1479 begonnen und 1481 abgeschlossen wurde der Münchener Cgm 213 (Nr. 26A.2.7.), eine von Konrad Bollstatter geschriebene Handschrift seiner erweiternden Bearbeitung von Meisterlins Text mit 19 Textillustrationen und einer das Dedikationsbild der Mülich-Handschrift variierenden Titelminiatur. Um 1480 entstand 4o Cod. Aug. 1 der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek (Nr. 26 A.2.4.), der außer Meisterlins Werk noch einen Augsburger Bischofskatalog und eine anonyme, von 1368–1406 reichende Augsburger Chronik enthält. Die Meisterlin-Chronik ist mit 46 Federzeichnungen illustriert; 29 Doppelportraits enthält der Bischofskatalog, eine Textillustration von anderer Hand die anonyme Chronik; ohne Textbezug ist das Schlußbild 358r. Auf 1490 datiert ist eines der 23 Einzelblätter, die von einer heute in verschiedenen Sammlungen (Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett; Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut; ehem. Haarlem, Sammlung Franz Koenigs [verschollen]; Hamburg, Antiquariat Dr. Jörn Günther; Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts; ehem. Stuttgart, Privatbesitz [gestohlen]) aufbewahrten Handschrift verblieben sind (Nr. 26A.2.5.). Wie der erhaltene Rest-Zyklus nahelegt, hatte die vollständige Bilderfolge einen ähnlichen Umfang wie die der Augsburger Handschrift 4o Cod. Aug. 1.
Trotz der nahen ikonographischen Verwandtschaft der vier Bilderzyklen in Stuttgart, München, Augsburg 4o Cod. Aug. 1 und im Codex discissus ist eine auffällige kompositorische Entwicklung von den älteren zu den jüngeren Exemplaren festzustellen: Während die – älteste – Stuttgarter Handschrift ihre Handlungsszenen in weiträumige Landschaften integriert, verengt der gut 20 Jahre jüngere Bollstatter-Codex die Bildbühne, und die beiden jüngsten Manuskripte – Augsburg 4o Cod. Aug. 1 und der Codex discissus – beschränken sich im wesentlichen auf die reinen, durch Architekturen und verkürzte Landschaften verortbaren Handlungsszenen. Der dargestellte Bildausschnitt schrumpft gleichsam von der »Totalen« – in Stuttgart – zur »Nahaufnahme« – im Codex discissus. Nicht nur die ikonographischen und bildkompositorischen Zusammenhänge machen deutlich, daß die (Bilder-)Handschriften von Sigismund Meisterlins Chronik in engem gegenseitigen Kontakt ihrer Auftraggeber, Schreiber und Illustratoren entstanden.
Der späte 2o Cod. Aug. 66 der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek (Nr. 26 A.2.2.) nimmt kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts noch einmal den für Georg Mülichs Codex 1457 entwickelten Bilderzyklus auf, jedoch nicht durch eine handschriftliche Vorlage vermittelt, sondern durch Melchior Rammingers Druck von 1522 (Nr. 26A.2.b.), dessen Holzschnitte, die er in neun deckfarbenkolorierte Zeichnungen umsetzt, selbst den handschriftlichen Illustrationszyklus reflektieren. Johannes Bämler hingegen bezieht sich – ganz gegen den gewohnten Brauch seiner Offizin – überhaupt nicht auf die Ikonographie der Handschriftentradition, sondern bebildert seine Inkunabel von 1483 (Nr. 26A.2.a.) lediglich mit sechs Holzschnitten, deren vier er eigenen ›Heiligenleben‹-Drucken entnimmt, während er nur zwei, von den Zyklen in den Manuskripten völlig unabhängig, neu schneiden läßt.
Bildthementabelle
Bildthema | Kap. | 26A.2.9. | 26A.2.3. | 26A.2.7. | 26A.2.4. | 26A.2.5. | 26A.2.b. | 26A.2.2. |
Landschaft | Vorrede | 8v | ||||||
Dedikation der Chronik an den Augsburger Rat | I,1 | IVv | 12v | |||||
Kaiserpaar mit Gefolge reitet durch Stadttor | I,1 | 8v | B 4079 | |||||
Stadt mit Brücke und Wächter | I,2 | 12v | ||||||
Stadt in Landschaft (Troja?) | I,3 | 16v | ||||||
Befestigte Stadt (Troja?) | I,4 | 20v | ||||||
Plünderung Trojas | I,5 | 23v | ||||||
Stadtbau (Gründung Triers oder Agrippa läßt Köln erbauen?) | I,6 | 29v | Pa 209 | |||||
Flußlandschaft (Germanien) | I,7 | 35v | ||||||
Schreibstube (Geschichtsschreiber) | I,8 | 39v | ||||||
Arche Noah | I,9 | 44v | Pa 204 | |||||
Japhet und seine Söhne | I,10 | 47v | B 4073 | |||||
Bau Augsburgs | II,1 | 14v | 17r | 43v | 52v | 4v | ||
Amazonenschlacht auf freiem Feld | II,2 | 18r | 21r | 51v | 57v | B 4075 | 8v | |
Amazonenkampf an der Stadtmauer | II,3 | 61v | B 4076 | |||||
Wiederaufbau Augsburgs | II,4 | 66r | Pa 208 | |||||
Anbetung der Göttin Cisa auf freiem Feld | II,5 | 21r | 58r | 7r | 13r | |||
Anbetung der Göttin Cisa im Tempel | II,5 | 25r | 59v | 70r | B 4074 | |||
Cisa als Ceres | II,6 | 75r | ||||||
Schwäbische Ritter vor Stadttor | II,7 | 79r | Ha | |||||
Gallier und Schwaben belagern Rom | II,8 | 69v | ||||||
Sieg des Marius und Tod der deutschen | ||||||||
Frauen | II,8 | 26v | 31r | 71r | 85r | 11r | 18v (= 31r) | |
Heer vor Stadttor (Caesar in Germanien?) | II,9 | 91v | ||||||
Augustus läßt Rom ausbauen | II,10 | 99v | Pr e | |||||
Ennius kämpf vor Augsburg mit den Schwaben / belagert Augsburg | III,1 | 33r | 38v | 84r | 103v | G | C2(=32r) | 27r (= 68r) |
Die Augsburger erwehren sich der Römer | III,2 | 36r | 42r | 87v | 111r | Pr b | 16r (= 11r) | 31r (= 18v) |
Habinus und Kaggus werden im Kampf gegen die Römer getötet | III,3 | 115v | ||||||
Die Augsburger unterwerfen sich Tiberius und Drusus | III,5 | 49r | 126r | |||||
Tiberius zieht in Rom ein (?) | III,6 | 52r | 133r | |||||
Tiberius auf dem Thron | III,7 | 138v | ||||||
Lanzenkämpfer in der Stadt (Aufruhr im römischen Heer?) | III,8 | 144r | Pa 205 | |||||
Vespasian zieht nach Germanien (?) | III,9 | 149r | Pa 206 | |||||
Reiter mit Packpferden (Völkerwanderung?) | III,10 | 155v | ||||||
Geburt Christi | IV,1 | 162v | Pr a | |||||
Predigt des hl. Lucius | IV,2 | 53r | 65r | 126v | 168v | Pr d | 27r | 56v |
Bischof und Mönch vor Heerzug, im Hintergrund Augsburg (Narcissus und Felix beobachten den Einzug Afras in Augsburg?) | IV,3 | 68r | ||||||
Enthauptung von vier Märtyrern | IV,3 | 175r | B 4078 | |||||
Afras Einzug in Augsburg | IV,4 | 179v | ||||||
Martyrium der hl. Afra | IV,4 | 57v | 71v | 138v | 184r | Pr f | ||
Begräbnis der hl. Afra | IV,5 | 191r | Pr c | |||||
Verbrennung des Dionysius und der Trauergemeinde Afras, Enthauptung von 25 Augsburgern | IV,5 | 74v | 141v | |||||
Theonestus predigt wider die Arianer (?) | IV,6 | 197r | ||||||
Martyrium des hl. Ursus | IV,6 | 77r | ||||||
Die Hunnen vor Augsburg, Afrakirche brennt | IV,7 | 63r | 79v | 32r (= 32r) | 68r (= 27r) | |||
Brand Augsburgs | IV,7 | 151r | ||||||
Kaiser mit Berittenen vor Stadttor | IV,7 | 202v | ||||||
Gottfried von Schwaben kämpft gegen Odilo von Bayern | IV,8 | 208r | ||||||
Karl der Große befiehlt Bischof Simprecht, Augsburg wiederaufzubauen | IV,8 | 82r | ||||||
Ostermesse des hl. Ulrich | IV,9 | 67r | 84r | 159v | ||||
Traum des hl. Ulrich | IV,9 | 160v | ||||||
Begräbnis des hl. Ulrich | IV,9 | 213r | ||||||
Schlacht auf dem Lechfeld | IV,10 | 70v | 88r | 162v | 217r | 36r | 78r | |
Bischof Bruno läßt die Moritzkirche erbauen | IV,11 | 222v | Pa 207 | |||||
Bischof Embricus vor den Reliquen Augsburger Heiliger | IV,12 | 226v | B 1050 | |||||
Die kaisertreuen Augsburger bekämpfen die Feinde Heinrichs IV. | IV,12 | 76r | 94v | 180v | 40r | 85v | ||
Die Feinde Heinrichs IV. an der Stadtmauer | IV,13 | 97v | 183v | 233r | ||||
Kaiser und Papst gemeinsam auf dem Thron (Investiturstreit) | IV,14 | 245v | ||||||
Erhebung des hl. Ulrich | IV,15 | 84r | 197r | 250r | B 4077 | |||
Ein Kaiser (Heinrich [VI.]?) auf dem Thron | IV,16 | 255r | ||||||
Begräbnis des hl. Ulrich | Schlußdank | F 14399 | ||||||
Türkenkrieg 1456 | Fortsetzung Mülichs | 116r |
Abkürzungen zu Nr. 26A.2.5.:
B: Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett
F: Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut
G: Hamburg, Antiquariat Dr. Jörn Günther
Ha: ehem. Haarlem, Sammlung Franz Koenigs
Pa: Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts
Pr: ehem. Stuttgart, Privatbesitz
Weder die lateinische noch die deutsche Fassung der ›Augsburger Chronik‹ Sigismund Meisterlins ist ediert.