Der ›Lucidarius‹ entstand vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts als Übertragung und Bearbeitung des ›Elucidarium‹ des Honorius Augustodunensis, dessen ›Imago mundi‹ ebenfalls mit in den Text einfloss (zu den Quellen siehe Gottschall [1992], Hamm [2002], Bertelsmeier-Kierst [2003], Weitbrecht [2014]). Damit nahm der ›Lucidarius‹ eine entscheidende Rolle bei der volkssprachlichen Vermittlung philosophischer und naturwissenschaftlicher Lehren ein (Sturlese [1992] S. 205). Aus dem gereimten Prolog A des ansonsten reimlosen Werks geht hervor, dass der Text im Auftrag Heinrichs des Löwen entstand, seine Hofkaplane sollten darin niht schriben wan die warheit, alz ez ze latine steit. Diesen Verweis auf den Auftraggeber haben Gottschall/Steer (1994, S. 114*) in ihrer Edition als »fiktional« aufgefasst, wobei diese Ansicht umstritten ist (Bertelsmeier-Kierst [2003]). Der Prolog nennt außerdem den Titel des Werks, was in der deutschsprachigen Literatur ein Novum darstellt: Diz buͦch heizet lucidarius (Prolog B; zu Titel und Lichtmetaphorik siehe Luff [1999] S. 65–72). Im ›Lucidarius‹ werden in drei Teilen diverse Themen als Dialog zwischen einem meister und einem iunger abgehandelt: erstens die Schöpfung und Ordnung der Welt (Himmel, Hölle, Paradies, Erde), zweitens liturgische Themen (Lehre von der Erlösung, Stundengebete, Messe, Kirchenjahr) sowie drittens die Eschatologie (Tod, Fegefeuer, Hölle, Weltuntergang, Jüngstes Gericht, ewige Freude). Dieses Grundprinzip der Dreiteilung deutet auf die Trinität hin: Die Schöpfung verweist dabei auf Gottvater, die Erlösung auf Christus und die letzten Dinge auf den Heiligen Geist. Es obliegt dem Meister, dem lúthere (Prolog B) bzw. erluchtere (Prolog A), der über mancherlei dinc berichtet, diesen geistlichen sin (Prolog B) aufzuzeigen (Steer [1985]).
Wie aus der Überlieferung hervorgeht, wurde der ›Lucidarius‹ vornehmlich als naturkundliches Werk verstanden und herangezogen. Während das dritte Buch selten mitüberliefert ist, erfuhr das zweite Buch spätestens im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts Kürzungen (Gottschall/Steer [1994] S. 88*), was die Konzentration auf den naturkundlichen Inhalt verstärkte (S. 34f., S. 47). Im Vergleich mit dem ›Elucidarium‹ markiere die naturkundliche Umarbeitung im ›Lucidarius‹ den Beginn der Übernahme der Schriften Wilhelms von Conches. Dies »bleibt in Deutschland – selbst im lateinischen Kontext – außergewöhnlich, in der volkssprachlichen Literatur steht der ›Lucidarius‹ für seine Zeit einzigartig da« (Bertelsmeier-Kierst [2003] S. 39). Der Text ist vor allem in Sammelhandschriften überliefert. Da das Werk unterschiedliche Themengebiete abdeckt, konnte es in verschiedene Kontexte gestellt werden, sodass es neben medizinischen, astrologischen (Schönfeldt [1963]), weltlichen oder geistlichen Texten zu finden ist (siehe Nr. 1.0.4., Nr. 29.1.3., Nr. 29.4A.2., Nr. 40a.0.1., Nr. 51.6.2., Nr. 59.13.2., Nr. 59.13.5. sowie die Stoffgruppen 100. Pilger- und Reisebücher, 103. Predigten). Mitunter dienten Abschnitte des ›Lucidarius‹ anderen Texten als Quelle, größere Auszüge des Werks flossen in das ›Iatromathematische Hausbuch (Schürstab-Fassung)‹ ein (I.78–I.80, I.87–I.89 und I.95; Ulmschneider [2011] S. 21–29; siehe auch Untergruppe 87.1.) und kleinere Passagen beispielsweise in eine astronomisch-mantische Sammelhandschrift (I.19; Ulmschneider [2011] S. 29f., siehe Nr. 11.5.1. [Datenbank-Nachtrag]) oder in das Werk Wolframs von Eschenbach sowie in diverse Lieder (Ulmschneider [2011] S. 30–34). Über die weite Verbreitung des Stoffs geben zahlreiche weitere volkssprachige Rezeptionszeugnisse Auskunft.
Die ersten deutschsprachigen ›Lucidarius‹-Drucke basieren auf zwei Fassungen, hauptsächlich stimmen sie mit der Textstufe x5 (Colmar, Stadtbibliothek, Ms. 55) überein, die auch das sonst weniger tradierte dritte Buch enthält, daneben hat aber auch die Textstufe y10 als Quelle gedient (Gottschall/Steer [1994] S. 63*). Der ›Lucidarius‹ wurde erstmals bei Anton Sorg 1479 gedruckt (Nr. 81.0.a.) und bis 1806 regelmäßig umgearbeitet und neu aufgelegt (aufgelistet bei Gottschall/Steer [1994] S. 19*–24*).
Das ›Elucidarium‹ ist nicht bebildert (Lefèvre [1954] S. 49; Gottschall [1992]; Luff [1999] S. 52), während ›Lucidarius‹-Handschriften Illustrationen beinhalten können. Hierbei kann es sich um eine Weltkarte, einen Himmelskörper oder um eine Unterweisungsszene handeln. Bemerkenswerterweise gibt der Text in einigen Fassungen einen Hinweis auf ein einzufügendes Bild einer Weltkarte, das manchmal ausgeführt wurde (z. B. also du daz solt merken daz dirre werlt niht me erbuwen ist wann daz dritteil der werlt als hie gemalet ist et cetera, vgl. Nr. 81.0.7.). In den Abschnitten I.47 und I.48 erklärt der Meister den Aufbau der Welt und beschreibt zunächst die einzelnen Zonen der Erde (fünf strazen, I.47), die er in bewohnt und nicht bewohnt (aufgrund von zu großer Hitze oder Kälte) einteilt, sowie im Anschluss die drei Kontinente. Einige der gezeichneten Weltkarten verbinden diese beiden Beschreibungen des Meisters miteinander und kombinieren die T-O-Karte mit einer Zonenkarte, die die fünf Teile der Erde mit Hilfe von parallel laufenden Linien in einem Kreis markiert (Ulmschneider [2005] und [2011] S. 387–407). Als Vorbild für diese Form der Karte könnten Darstellungen in der ›Philosophia mundi‹ des Wilhelm von Conches sowie in den ›Etymologiae‹ des Isidor von Sevilla gedient haben (Ulmschneider [2011] S. 403f.). Man berief sich damit auch in der Illustration auf anerkannte Traditionen, sodass »auch visuell ein ›Autoritätsanspruch‹ für das volkssprachige Werk formuliert« wurde (Lindemann [2017] S. 310).
In drei Handschriften wurde nach dem Verweis auf das Bild der Welt auch ein solches eingefügt, zweimal eine Kombination aus Zonen- und T-O-Karte (Nr. 81.0.5., Nr. 81.0.7.) und einmal eine vereinfachte Skizze des Weltkreises (Nr. 81.0.1.). Darüber hinaus war die Illustration der Welt in einigen Handschriften nach dem Hinweis vorgesehen, wurde aber nicht ausgeführt (Nr. 81.0.3., Nr. 81.0.10., Nr. 81.0.12.). Schließlich lassen manche Handschriften nach dem Verweis keine Lücke frei (Ulmschneider [2011] S. 407); manche Codices können dafür an anderen Stellen Abbildungen aufweisen, während andere unillustriert geblieben sind: Brünn, Mährische Landesbibliothek, RKP-0048.042 (olim Rkp 84); Chur, Staatsarchiv, Cod. B 1 (Nr. 81.0.2.); Berlin, Ms. germ. quart. 1528; Gießen, Hs. 231; München, Cgm 1141; Mainz, Stadtbibliothek, Hs I 296; München, Cgm 246 (Nr. 59.13.2.); Providence, John Hay Library, Ms. German Codex 1 (Nr. 81.0.8.); Trient, Stadtbibliothek, Cod. 2131; Zürich, Zentralbibliothek, Ms. A 161 (Nr. 81.0.13.). Im Text der Handschrift aus Straßburg gibt es diesen Hinweis nicht, dennoch wurde am Ende des ›Lucidarius‹ – gewissermaßen als Nachtrag – eine Weltkarte eingefügt (Nr. 81.0.11.).
Der Verweis auf die Darstellung einer Weltkarte scheint dem deutschsprachigen ›Lucidarius‹ eigen zu sein. Hierin gleicht er der deutschen Fassung von ›De spera‹, in der die Wendung alſo dv kieſen maht an dirre figuren auftaucht, womit der Text »systematisch mit Diagrammen verbunden ist« (Lindemann [2017] S. 296). Für den ›Lucidarius‹ gilt daher gleichermaßen, dass »die Deixis der sprachlichen Formel (dirre, hie, also) dem Diagramm einen festen Ort in der Partitur des Textes [gibt], es ist nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Seite. Auch wenn es fehlte, bliebe es als ›vor-gesehen‹ präsent«; das Diagramm wird so zum »Mittel der Erkenntnis«, unabhängig davon, wie einfach oder unverständlich es dem heutigen Rezipienten erscheinen mag (Lindemann [2017] S. 304).
Neben der Welt können im ›Lucidarius‹ beschriebene Himmelskörper illustriert werden. Besonders ausführlich geht der Meister auf den Mond, seine Erscheinung und Wandelbarkeit ein. Der Erdtrabant wird gleich zweimal in einer Handschrift in Rom gezeigt (Nr. 81.0.9.), des Weiteren wird hier auch ein Komet dargestellt. Eine einfache Skizze des Monds gibt auch eine Handschrift in Zürich (Nr. 81.0.13.).
Die französische Übersetzung wurde nicht mit Weltkarten oder Himmelskörpern illustriert, ist aber mitunter zusammen mit anderen Texten überliefert, in denen die Welt oder der Kosmos abgebildet ist (vgl. Paris, ms. fr. 1157 und ms. fr. 2168). Den französischen ›Lucidaires‹ leitet eher eine Belehrungsszene zwischen Meister und Schüler ein (z. B. Paris, ms. fr. 1036, 20r und ms. fr. 1157, 258v), was den Text in Sammelhandschriften leichter auffindbar macht. Das einzige Beispiel für eine Belehrungsszene im deutschsprachigen Raum existiert in einer Münchner ›Lucidarius‹-Handschrift (Nr. 81.0.6.). Hier wird die Dialogform des Textes unmittelbar veranschaulicht; weniger textspezifisch ist das Bild eines Schreibers in einer Handschrift in Heidelberg (Nr. 81.0.4.). Nur die Belehrungsszene und das Schreiberbild scheinen von Malern ausgeführt worden zu sein, alle weiteren Illustrationen dürften von den jeweiligen Schreibern stammen.
Zwei ›Lucidarius‹-Handschriften sind in Chur und Providence erhalten, deren Randzeichnungen Bezug zum Text aufweisen, die bislang nicht als Illustrationen gewertet wurden: siehe Nr. 81.0.2. (Ulmschneider [2011] führt die Randzeichnung nicht an) und Nr. 81.0.8. (die Zeichnungen werden von Ulmschneider [2011] benannt, aber nicht auf den Text bezogen, eine Illustration in dieser Sammelhandschrift wird dem ›Lucidarius‹ zugeschrieben, gehört aber zum darauffolgenden Text).
Nicht aufgenommen wurden zwei Handschriften, in denen vorne ein Bild ohne Bezug zum Text eingefügt wurde: Eine ›Lucidarius‹-Handschrift, die heute in Augsburg aufbewahrt wird (Universitätsbibliothek, Cod. III.1.8º 2), zeigt das Bild eines Engels (2r), der zwei Wappen hält. Es handelt sich um einen Besitzervermerk, nicht um eine Textillustration. Eine weitere Abbildung, die einer Sammelhandschrift vorangestellt ist, die einen ›Lucidarius‹ enthält (114v–151v), stellt die Arma Christi dar (Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 183, vgl. Einleitung zur Stoffgruppe 44. Geistliche Lehren und Erbauungsbücher).
Weiterhin nicht aufgenommen wurden illustrierte Handschriften mit unselbständiger ›Lucidarius‹-Überlieferung, zum einem in der astronomisch-mantischen Sammelhandschrift Cgm 596 (Nr. 11.5.1. [Datenbank-Nachtrag]) sowie im ›Iatromathematischen Hausbuch (Schürstab-Fassung)‹ (Nr. 87.1.). Hier ist der ›Lucidarius‹ in einen neuen Bild-Text-Zusammenhang gebracht worden. So beinhaltet Cgm 596 unter anderem eine ganzseitige Darstellung, die den gesamten Kosmos vor Augen stellt (21v). Dabei werden insbesondere die himmlischen Sphären und die Höllenkreise kontrastiert. Dem folgen neun Illustrationen zu den neun Himmelssphären, die jeweils durch einen Engel veranschaulicht werden (22ra–23vb). Der anschließende Abschnitt zu den elf Höllen (27ra–28rb) stammt aus dem ›Lucidarius‹ (I.19), dabei wurde die Frage des Schülers weggelassen und nur die Ausführung des Meisters gekürzt aufgenommen. Unterhalb der Beschreibungen erfolgt die Illustration der elf Höllen, die im Kontrast zu den Engelsdarstellungen stehen.
Zum anderen sind Ausschnitte aus dem ›Lucidarius‹ in das ›Iatromathematische Hausbuch‹ eingegangen (I.78–I.80 zum Lauf der Sonne und den zwölf Zeichen, I.87–I.89 zur Natur der Gestirne und zum Mond und I.95 zum Kometen), das sich mit dem Aufbau des Kosmos auseinandersetzt (zum Verhältnis der Hausbücher zum ›Lucidarius‹ siehe Schönfeldt [1963] S. 85–90 und Ulmschneider [2011] S. 21–29). Die Beobachtung der Sterne erfolgt hier aus medizinischer Sicht. Dieses ›Iatromathematische Hausbuch‹ hat ein festes Illustrationsprogramm, von dem nur selten abgewichen wird (Schnell [2019]). Hierzu gehört eine Abbildung von einem oder zwei gelehrten Sterndeutern, die beispielsweise unter freiem Himmel miteinander diskutieren, im Buch studieren oder mit einem Astrolabium die Sterne beobachten. Diese Illustration kann direkt an den ›Lucidarius‹-Abschnitt angegliedert sein (z. B. Philadelphia, University of Pennsylvania, LJS 463, 41v; Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 54, 33v), sie muss aber nicht mit ihm verbunden sein (z. B. Heidelberg, Cod. Pal. germ. 291, 27r; München, Cgm 349, 52r). Diese Bilder können sowohl auf die Lehre von den Himmelskörpern im ›Iatromathematischen Hausbuch‹ bezogen werden als auch auf den ›Lucidarius‹, in dem die Gestirne erklärt werden.
Diese vielfach überlieferte Darstellung der Sterndeuter könnte das Bild inspiriert haben, das in den Drucken seit 1479 als einleitende Illustration für den ›Lucidarius‹ steht. Zu Beginn des Textes wird eine Lehrszene unter einem freien Sternenhimmel zwischen Meister und Schüler gezeigt (Nr. 81.0.a.–81.0.i.; siehe auch Unzeitig [2014]), die zudem auf das 1491 gestaltete Titelblatt aufgenommen wurde (vgl. Nr. 81.0.d.). Zusätzlich zu dieser Lehrszene entwickelte man für den Druck ein ausführlicheres Bildprogramm, das den Schwerpunkt insbesondere auf die Darstellung der Welt und des Kosmos legt. Illustriert wird anhand von Schemata das Firmament, der Aufbau der Welt und der Gestirne. Die Evidenz des Beschriebenen, die durch diese Schemata verstärkt wird, kann durch Bilder von Autoritäten gesteigert werden, die den Darstellungen beigestellt sind (vgl. Nr. 81.0.c.). Außerdem veranschaulicht die Abbildung vom Sturz des Teufels (vgl. Nr. 81.0.b.) den Anbeginn der unteren und oberen Sphären und Hierarchien, wie sie vom Meister im Text erläutert werden. Ab 1496 ist zu beobachten (Nr. 81.0.e., 81.0.g.–81.0.i.), dass der ›Lucidarius‹ immer häufiger mit Holzschnitten, die bereits in anderen Werken der Drucker und Verleger Verwendung fanden, angereichert wurde, da sein großes Themenspektrum Hinzufügungen erleichterte. Erklärende und Evidenz erzeugende Schemata bleiben dabei stets der Schwerpunkt der Bildprogramme. Ab ca. 1536 setzte mit dem Druck von Jakob Cammerlander (VD16 L 3079) eine neue Redaktion und Bildtradition für den ›Lucidarius‹ ein, auf die an dieser Stelle lediglich hingewiesen sei.
Aufgenommen wurden hier die im GW nachgewiesenen ›Lucidarius‹-Drucke sowie die im VD16 aufgeführten Drucke bis 1519, wenn von ihnen heute noch mindestens ein Exemplar erhalten ist. Weitere, nicht mehr erhaltene Drucke werden mit ihren Illustrationen bei Schorbach (1894a) beschrieben. Die Beschreibung der Drucke folgt in dieser Stoffgruppe einem neuen Schema: Um die Entwicklung des Bildprogramms bei den ›Lucidarius‹-Drucken zu verdeutlichen, werden alle Drucke, die dasselbe Bildprogramm enthalten, unter einer gemeinsamen Katalognummer beschrieben.