39.1. Anonyme Büchsenmeisterbücher der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
Bearbeitet von Rainer Leng
KdiH-Band 4/2
Die hier in einer Untergruppe versammelten Feuerwerks- und Kriegsbücher stellen die ältesten Vertreter der Gattung dar. Die einzelnen Werke sind durchweg anonym überliefert. Die Inhalte speisen sich aus heterogenen Sammlungen von Pulverrezepten, die partiell durch einleitende Passagen monographische Gestalt annehmen, und Illustrationsfolgen, die teilweise unabhängig von Texten entstanden und auf Rißzeichnungen auf Einzelblättern zurückgingen, teilweise aber auch zur Textillustration neu gefertigt wurden. Bei den beiden ältesten Vertretern, München, Cgm 600 (Nr. 39.1.6.) und der eng verwandten Handschrift Wien, Cod. 3069 (Nr. 39.1.10.) wurden wohl anfangs Illustrationen zu existierenden Rezepten hinzugefügt, die zusätzliche Informationen zu Arbeitsgerät enthielten, die dann mit weiteren textlosen Illustrationen zu Feuerwaffen und konventionellen Waffen ergänzt wurden. Ob weitere Beschriftung hierzu vorgesehen war, läßt sich nicht entscheiden. Im zweiten Fall wurde der Katalog noch um zahlreiche nachgestellte Abbildungen aus dem ›Bellifortis‹ ergänzt, was ein frühes Rezeptionszeugnis darstellt.
In den weiteren Überlieferungen dieser Gruppe existieren Beispiele für intensive Text-Bild-Verschränkungen, wie bei Nürnberg, Hs 25801 (siehe Nr. 39.1.8.) und Wien, KK 5135 (siehe Nr. 39.1.11.). Insgesamt überwiegen jedoch die Handschriften, bei denen längere Textpassagen mit Rezepten zur Feuerwerktechnik rudimentär, meist interlinear oder marginal, bebildert sind (Frankfurt, Reichssachen Nachträge Nr. 741 [siehe Nr. 39.1.2.], Wien, Cod. 3064 [siehe Nr. 39.1.9.]), sowie Handschriften, in denen sich längere Textpassagen mit anhängenden, weitgehend textlosen Bildkatalogen abwechseln (Berlin, Ms. germ. quart. 1018 [siehe Nr. 39.1.1.], Heidelberg, Cod. Pal. germ. 787 [siehe Nr. 39.1.4.], Leeds, Inv. No. I/34 [siehe Nr. 39.1.5.]). Sonderfälle bilden die Handschriften Gießen, Hs. 996 (siehe Nr. 39.1.3.), die mit nur wenigen Schemazeichnungen zwischen städtischem Verwaltungsschriftgut und Kriegsordnung steht, sowie München, Clm 197 (siehe Nr. 39.1.7.), die, auf spätere Typen vorausweisend, durch intensivere Kommentierung der Abbildungen aus dem Umfeld eines in den Hussitenkriegen engagierten Technikers auffällt.
Die Anzahl der Abbildungen schwankt dabei je nach Typ zwischen zwei (Frankfurt, Reichssachen Nachträge Nr. 741 [siehe Nr. 39.1.2.]) und 260 Zeichnungen (Wien, KK 5135 [siehe Nr. 39.1.11.]). Der chronologische Rahmen spannt sich von 1411 (Wien, Cod. 3069 [siehe Nr. 39.1.10.]) bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, wobei derart individuelle Kompilationen als Typ weiterhin existieren und hier nur aus systematischen Gründen eine chronlogische Grenze gezogen wurde (ähnliche Überlieferungen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts siehe 30.7.). Geographische Schwerpunkte liegen im alemannischen und bairischen Raum, wobei nach den ältesten Überlieferungen auch Rheinfranken (Heidelberg, Cod. Pal. germ. 787 [siehe Nr. 39.1.4.]) und Nürnberg (Gießen, Hs. 996 geht auf eine Nürnberger Vorlage zurück [siehe 39.1.3.]) hervortreten.
Besitzer sind kaum auszumachen. Aufgrund der dezidiert technischen Inhalte, mancher relativ rohen Skizze und Unerfahrenheit in der Buchproduktion darf man jedoch annehmen, daß gerade bei den ältesten Überlieferungen kein hochrangiges Publikum angestrebt wurde, sondern der Gebrauch auf das unmittelbare berufliche Umfeld beschränkt blieb. Urheber von Texten und Skizzen sowie Schreiber und Illustrator dürften in zahlreichen Fällen übereinstimmen. Einige Zeichnungen lassen sich in mehreren Überlieferungen nachweisen, so daß mit kollegialem Austausch bzw. einem unter Büchsenmeistern wandernden Bildkorpus zu rechnen ist. Die ikonographische Bindung an real existierende Technik, die sich von Ort zu Ort nicht grundlegend unterschieden haben dürfte, erschwert jedoch die Rückführung von Illustrationen auf Vermittlung durch verschriftlichte Vorlagen. Lediglich die von Buchmalerarbeiten beeinflußte und mit einem Register versehene Handschrift Wien, Cod. 3069 (siehe Nr. 39.1.10.), läßt an einen höherrangigen Adressaten denken. Ansonsten sind (abgesehen von der Auftragsarbeit Gießen, Hs. 996 [39.1.3.]) alle Stücke ohne Widmung und erkennbare Auftragsintention, somit private Manuale. Die Bebilderung orientiert sich dementsprechend an technischen Bedürfnissen und nicht an der vorherrschenden Buchillustration.