39.8. Sammelhandschriften zur Kriegstechnik an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert
Bearbeitet von Rainer Leng
KdiH-Band 4/2
In der Untergruppe 39.8. wurden drei Überlieferungsträger zusammengefaßt, die sämtlich um bzw. kurz nach 1500 entstanden und sich durch ausgesprochenes Sammelinteresse auszeichnen. In allen drei Fällen ist ein Auftraggeberinteresse zu erkennen. Die Frankfurter Handschrift Ms. germ. qu. 14 (siehe Nr. 39.8.2.) wurde entweder bereits im Auftrag des Frankfurter Rates zusammengestellt oder jedenfalls durch Karl von Hensberg relativ kurze Zeit nach ihrer Entstehung für den Rat erworben. Sie wurde in der Ratsbibliothek als Liber Catenatus aufbewahrt. Die Erlanger Handschrift B 26 (siehe 39.8.1., ausführlicher 38.9.4.) geht auf Ludwig von Eyb den Jüngeren zurück, der als Vicedominus der Oberpfalz im Dienst des Pfalzgrafen Philipp I. des Aufrichtigen (1476–1508) stand und u. a. im Bayerischen Erbfolgekrieg (1504/05) auch unmittelbar mit Fragen der Kriegstechnik befaßt war. Die Handschrift wurde nach längerer Entstehungszeit ab 1500 erst 1510 abgeschlossen und diente wohl dem eigenen Gebrauch; ob eine Widmung an einen seiner Dienstherrn beabsichtigt war, ist nicht bekannt. In engstem inhaltlichen und entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Codex Ludwig von Eybs steht eine umfangreiche Sammlung von Abbildungen im sog. Weimarer Ingenieurkunst- und Wunderbuch (Weimar, Fol 328 [siehe Nr. 39.8.3.]). Ihr Auftraggeber konnte noch nicht sicher identifiziert werden, ist jedoch mit seinem Wappen vertreten, das dem Oberpfälzer Geschlecht Wolfstein zugeschrieben wurde. Die nach den inneren Merkmalen nur grob dem süddeutschen Raum um 1500 zuzuweisende Handschrift würde bei dezidiert Oberpfälzer Entstehung noch deutlichere überlieferungsgeschichtliche Verbindungslinien zum Eybschen Kriegsbuch erkennen lassen, das vermutlich in Amberg entstanden ist. Unmittelbarer Austausch oder jedenfalls Verwendung derselben Quellen sind evident.
Der Umfang der Bildüberlieferung in den drei Sammelhandschriften ist enorm. Eine exakte Gesamtzahl ist kaum zu ermitteln, da in zahlreichen Fällen mehrere Einzelzeichnungen auf einer Seite stehen, die aber häufig mehrere Bestandteile derselben Maschine abbilden oder inhaltlich zusammengehörige Varianten von Geräten oder Zubehör zeigen. Der Frankfurter Codex kommt auf 210 illustrierte Seiten mit jeweils bis zu vier Zeichnungen. Die Erlanger Sammelhandschrift enthält 546 mit Zeichnungen versehene Seiten (meist eine Zeichnung je Seite, gelegentlich aber bis zu 20 Einzelzeichnungen auf einer Seite), und das Weimarer Ingenieurkunst- und Wunderbuch weist ganze 656 Seiten mit Federzeichnungen auf, von denen wiederum nicht wenige in bis zu 15 Einzelzeichnungen je Seite zerfallen. Bei Berücksichtung der Einzelzeichnungen ergibt sich allein in dieser Untergruppe ein Bestand von vermutlich über 2000 Illustrationen. Während die Weimarer Handschrift nahezu vollkommen textlos ist und der Erlanger Codex mit wenigen Textbestandteilen auskommt – in beiden Fällen ist die rahmen- und hintergrundlose Präsentation von einem Bild je Seite die Regel – weist die Frankfurter Sammelhandschrift ein komplexeres Text-Bild-Verhältnis vor. Hier wechseln regelmäßig längere zweispaltige Textpassagen, in denen gerahmte Illustrationen integriert sind, mit nahezu textlosen Bildkatalogen.
Bei allen drei Sammelhandschriften ist ein großer Teil der ikonographischen Vorlagen wenigstens typologisch, in einzelnen Fällen sogar individuell zu ermitteln. Die Frankfurter Handschrift besteht aus einem erweiterten und sparsam illustrierten ›Feuerwerkbuch von 1420‹, um dann in Text-Bild-Kombinationen und Bildkatalogen den nahezu vollständigen Formschneider-Komplex zu präsentieren. In größerem Umfang wurden noch die Abbildungen aus dem Bildkatalog von Valturio/Hohenwang aufgenommen (möglicherweise ebenfalls auf dem Umweg über die Formschneider-Handschriften), sowie in geringerem Umfang eine Auswahl aus dem ›Bellifortis‹, wobei die technischen Geräte vorrangig behandelt und die magischen Bezüge reduziert wurden.
Noch umfangreicher ist das Bildprogramm des Kriegsbuches Ludwigs von Eyb. Nach einigen nicht identifizierbaren Belagerungsszenen sowie Fecht- und Ringlehren (siehe Nr. 38.9.3.) folgen Wagenburgen, Zugordnungen, Kräne und Hebezeug, die eine intensive Benutzung der Formschneider-Materialien erkennen lassen. Nahezu vollständig sind auch die Bildkataloge von Martin Merz und Philipp Mönch präsent (siehe 39.6.). Eyb dürfte Mönch als Pfälzer Büchsenmeister und ebenso Martin Merz, der im Amberg lebte, persönlich gekannt haben. Aus beruflichem Zusammenhang dürften auch jene Illustrationen Eingang gefunden haben, die eng mit dem Landshuter Zeughausinventar Ulrich Bessnitzers verwandt sind (siehe Nr. 39.20.2.). Aufgenommen wurden auch Abbildungen aus den Anfängen des 15. Jahrhunderts. Einige Illustrationen zeigen unverkennbare Verwandtschaft etwa zum Münchener Cgm 600 (Nr. 39.1.6.) und zum ›Hussitenkriegsingenieur‹ (Nr. 39.1.7.). Auch der ›Bellifortis‹ ist präsent, wobei Eyb eher auf Vollständigkeit denn auf Auswahl Wert legte. Eine der pfälzischen Büchersammlungen dürfte hierfür eine Vorlage bereitgestellt haben.
Die wohl umfassendste Sammlung von Maschinenzeichnungen und kriegstechnischen Abbildungen enthält das Weimarer Ingenieurkunst- und Wunderbuch. Zahlreiche Illustrationen, insbesondere zur Mühlentechnik, zu Perpetua Mobilia oder zur Wassertechnik stammen aus nicht identifizierbaren Vorlagen. Für einiges wurden gar arabische Vorbilder angenommen. Der ›Bellifortis‹ ist, verteilt über verschiedene Abschnitte, vollständig vertreten. Anhand zahlreicher kulturgeschichtlich wertvoller Genreszenen, die ansonsten nur noch in einer lateinischen ›Bellifortis‹-Handschrift in Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1888 auftreten, dürfte sich diese Handschrift als direkte Vorlage nachweisen lassen. Ansonsten sind Abbildungen aus älteren Büchsenmeisterbüchern wie Wien, Cod. 3069 (siehe Nr. 39.1.10.), Nürnberg, Hs 25801 (siehe Nr. 39.1.8.), Wien, KK 5135 (siehe Nr. 39.1.11.), Wien, Cod. 3062 (siehe Nr. 39.4.19.) oder dem ›Hussitenkriegsingenieur‹ (Nr. 39.1.7.) festzustellen. Der Formschneider-Komplex in besonderer Nähe zu München, Cgm 734 (siehe Nr. 39.5.4.) und Cgm 356 (siehe Nr. 39.5.3.) ist ebenso vertreten wie Abbildungen aus Valturio/Hohenwang, wobei hier einiges doppelt vorliegt und anhand der seitenverkehrten Wiedergabe der Valturio-Bilder im Druck Hohenwangs sogar geschlossen werden kann, daß dem Kompilator sowohl eine Valturio-Handschrift als auch der Hohenwang-Druck vorlag. Entweder über die Vermittlung Eybs oder aus ähnlichen beruflichen Kontakten des Auftraggebers der Handschrift sind auch Martin Merz und Philipp Mönch präsent sowie das Landshuter Zeughausinventar Ulrich Bessnitzers (siehe Nr. 39.20.2.). Besonders auffällig und typisch für eine gewisse Tendenz des Auftraggebers zur Segemtierung und Neukombination einzelner Maschinenelemente sind zahlreiche Varianten eines Steck- und Schraubsystems zum Bau von diversem Brechzeug oder Mauerhaken, das sich in zwei Blöcken über zahlreiche Blätter erstreckt.
Die drei Sammlungen stellen einen Höhepunkt und zugleich einen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt der Kriegs- und Feuerwerksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts dar. Insbesondere bei der Aufnahme älteren Materials zeigt sich bereits antiquarisches Interesse. Daneben steht jedoch zeitgenössische Technik im Zentrum, die sich keineswegs nur auf kriegerisch nutzbare Kontexte beschränkt, sondern generelle Aspekte der Mechanisierung und der Ingenieurskunst berücksichtigt. Mit der Aufnahme eines erheblichen Teils der im 15. Jahrhundert erstellten Illustrationen in große, repräsentative Sammlungen mit städtischem bzw. adeligem Auftraggeberhintergrund gelangt eine Phase in der Entwicklung von Feuerwerks- und Kriegsbüchern zum Abschluß, die abgesehen von ›Feuerwerkbuch von 1420‹ und ›Bellifortis‹ von individuellen Manualen geprägt war. Mit dem beginnenden 16. Jahrhundert werden jene von einem Typ artilleristischer Lehrschrift abgelöst, der auf größere handschriftliche Verbreitung bei umfassender schriftlicher Darstellung der Feuerwerkskunst gerichtet war. Die Illustrationen als zentrale Informationsträger treten dann hinter den Text zurück, was sich insbesondere bei Franz Helm zeigt (siehe 39.9.).