66. Karl der Große
Bearbeitet von Kristina Domanski
KdiH-Band 7
Karl der Große ist als eine der zentralen historischen Gestalten des europäischen Mittelalters in einer unübersehbaren Fülle schriftlicher und bildlicher, lateinischer und volkssprachlicher Quellen über Jahrhunderte hinweg präsent. Seiner überragenden Bedeutung als Begründer des karolingischen Reiches und Exempel eines idealen Herrschers entsprechend, gehören auch die illustrierten Handschriften jener beiden literarischen Werke, in deren Fokus seine Person steht, zu den bedeutendsten Objekten des deutschsprachigen Mittelalters: das ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad und Strickers ›Karl der Große‹. Die beiden Epen zum Spanienfeldzug im Jahr 778 und ihre zugehörigen Bildzyklen stellen allerdings nur den geringsten Teil einer umfangreichen Überlieferung zur Person des karolingischen Herrschers in der Buchmalerei dar, weshalb seine vielfältigen Vergegenwärtigungen in deutschsprachigen illustrierten Handschriften in dieser Einleitung durch eine Verknüpfung zu weiteren Stoffgruppen des Katalogs skizziert werden soll.
Mit dem ›Rolandslied‹, das inhaltlich dem Vorbild der französischen ›Chanson de Roland‹ folgt, setzt um 1180 die materiell fassbare, schriftliche Überlieferung deutschsprachiger Epen überhaupt erst ein. Das Epos schildert, ausgehend von dem historischen Feldzug Karls des Großen, den Krieg gegen die Heiden in Spanien, bei dem in der Schlacht von Roncevalles außer Roland, dem Neffen Karls, auch Bischof Turpin von Reims sowie zahlreiche weitere Getreue einen märtyrergleichen Tod finden, ehe der Kaiser als Verteidiger des christlichen Glaubens die heidnischen Könige überwinden kann. Die Überlieferungszeugen des ›Rolandslieds‹ stammen vor allem aus dem ausgehenden 12. und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, denn in der Folge wendet sich das Interesse der Leserschaft der Umarbeitung des Stoffes durch den Stricker zu. Sein ›Karl der Große‹ entstand vermutlich zwischen 1215 und 1233, bot eine im Sinne höfischer Kunst erneuerte Fassung der Ereignisse und rückte die Person Karls stärker in den Mittelpunkt. Von Strickers ›Karl dem Großen‹ sind bis ins 15. Jahrhundert hinein zahlreiche Abschriften belegt, doch liegt ein Schwerpunkt der Rezeption im frühen 14. Jahrhundert bei den prunkvollen oberrheinischen Handschriften, deren Miniaturzyklen die Ereignisse vor goldenem Hintergrund in einer für Bildfolgen epischer Literatur exzeptionellen Prachtentfaltung veranschaulichen.
Von den weiteren Dichtungen zu Karl dem Großen, die wie ›Karl und Galie‹, ›Morant und Galie‹ oder ›Karl und Elegast‹ nach französischen Vorbildern im Verlauf des 13. Jahrhunderts entstehen, sind zumeist nur einzelne späte Abschriften oder Fragmente erhalten, so dass über etwaige Bildfolgen keine Aussage getroffen werden kann. Gleiches gilt auch für die ›Karlmeinet-Kompilation‹, in der ein vermutlich in Aachen ansässiger Bearbeiter die genannten und einige weitere, ursprünglich selbstständige Karlsdichtungen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zusammenfasste (
Die bebilderten Abschriften zum ›Rolandslied‹, beginnend mit der Heidelberger Handschrift vom Ende des 12. Jahrhunderts (Nr. 66.1.1.), sind als die ältesten illustrierten Manuskripte deutschsprachiger Epik anzusprechen. Gleichwohl sind sie in ein Umfeld vielfältiger Traditionen – sowohl der textlichen, der bildlichen als auch einer gemeinsamen Überlieferung beider Medien – zu situieren, die bereits zu Lebzeiten Karls des Großen einsetzt. Als frühe Beispiele vermögen das möglicherweise schon vor 810 in Latein verfasste ›Aachener Karlsepos‹ (fragmentarisch erhalten in der ehemaligen St. Galler Handschrift, jetzt Zürich, Ms. C 78, 104r–114v) oder das noch vor der Kaiserkrönung im Jahr 800 entstandene, in einer Nachzeichnung des 16. Jahrhunderts dokumentierte Mosaik im Triclinium des Lateran davon zu zeugen (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 5407, 186r). Die dort dargestellte Szene zeigte die von Petrus vorgenommene Übergabe einer Fahne an Karl und eines Palliums an Papst Leo als Zeichen für ›regnum‹ und ›sacerdotium‹ und veranschaulichte damit eine sakrale Legitimation weltlicher Herrschaft von grundlegender Bedeutung und nachhaltiger Wirkung. Als Begründer der ›translatio imperii‹, als vorbildlicher Kaiser, Gesetzgeber und Stifter blieb Karl der Große während des ganzen Mittelalters – und darüber hinaus – eine zentrale historische Persönlichkeit, die als Bezugsperson und Projektionsfläche für vielfältige Funktionen in Anspruch genommen wurde. Die Erwähnung seiner Person, seine visuelle, mündlich oder schriftlich gefasste Darstellung diente als Referenz für Herrschaftslegitimation und zur Bekräftigung von Rechtsansprüchen. Als Gründer von Klöstern und Städten wurde er ebenso angeführt wie als Ideal eines vorbildlichen Herrschers. Seit seiner von Friedrich Barbarossa betriebenen Kanonisation 1165 wurde dem Heiligen Karl schließlich auch liturgische Verehrung erwiesen. Nicht zuletzt hat die Heiligsprechung Karls der literarischen und bildlichen Auseinandersetzung mit dem Kaiser neue Impulse gegeben. Die aus diesem Anlass in Latein verfasste ›Aachener Vita Karls des Großen‹ bildete die wichtigste Textgrundlage für den Karlsschrein in Aachen – eine der elaboriertesten Goldschmiedearbeiten des Mittelalters (
Der folgende Überblick über Textarten und Bildtypen sowie ihr intentionales Zusammenspiel bietet einen Hintergrund für die Bildfolgen zu den literarischen Dichtungen von ›Rolandslied‹ und Strickers ›Karl‹. Dabei sind die lateinischen wie auch die – später entstandenen – deutschsprachigen Texte, in denen über den karolingischen Kaiser berichtet wird, ihrer Gattung nach ebenso vielfältig wie die diversen Funktionalisierungen, für die der Herrscher eingesetzt wird.
Bereits vor der Jahrtausendwende werden bildliche Darstellungen Karls des Großen in Handschriften integriert, so dass sich die früh einsetzende und symbolisch aufgeladene Überlieferung auch in der Verknüpfung von Text und Bild spiegelt. Die ersten Zeugnisse hierfür finden sich zunächst im Kontext hochmittelalterlicher Rechtssammlungen wie der ›Leges Barbarorum‹, einer Zusammenstellung der Volksrechte von Lupus von Ferrières (gest. 862), deren älteste erhaltene Kopie aus dem Jahre 991 innerhalb einer Folge von acht kolorierten Federzeichnungen den thronenden Karl im Gespräch mit seinem Sohn Pippin zu Beginn der Leges Karoli magni zeigt (Modena, Archivio Capitolare, Cod. 0.1.2., 154v). Der Bildtyp des thronenden Herrschers, der als Garant der Rechte einem Rechtsbuch vorangestellt wird, bleibt das ganze Mittelalter hinweg eine gebräuchliche Bildformulierung, wie die späteren Beispiele sowohl in Manuskripten des ›Sachsenspiegels‹ (Dresden, Mscr.Dresd.M.32, 1r, Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2o, 1r) als auch des ›Schwabenspiegels‹ belegen (München, Cgm 552, 48v). Die Ikonographien der einzelnen Illustrationen weichen dabei in den Details selbstverständlich stark voneinander ab, so kann die Darstellung im Spätmittelalter etwa eine szenische Ausgestaltung als Übergabe eines Codex erfahren wie im Lüneburger Manuskript des ›Sachsenspiegels‹ (Lüneburg, Ratsbücherei, Ms. Jurid. 2, 20v). Die Funktion der Herrscherdarstellung als Autorisierung und Bestätigung der aufgeführten Rechte bleibt davon jedoch unberührt. Divergent präsentiert sich im Zeitverlauf auch die Zusammenstellung der Herrschaftsinsignien und des Ornats, die sich an unterschiedlichen Vorbildern orientieren, so dass Karl eine spätantike Chlamys, dem byzantinischen Kaiserornat nachempfundene Pendilien oder einen hermelingefütterten Mantel tragen kann. Die durch die jeweiligen Attribute aufgerufenen Herrschaftskonzepte sind dabei konstituierend für den spezifischen Machtanspruch, der durch die Vergegenwärtigung des karolingischen Kaisers formuliert wird.
Die illustrierten Chroniken, insbesondere die Weltchroniken, stellen seit Mitte des 12. Jahrhunderts eine zweite Traditionslinie neben den Rechtssammlungen dar, zumal Karl dem Großen in ihrer Konzeption als dem rechtmäßigen Nachfolger der römischen Kaiser und Initiator der ›renovatio imperii‹ eine zentrale Stellung zukommt. Zwar sind für die deutschsprachigen Fassungen der ›Kaiserchronik‹ bebilderte Abschriften erst in Fragmenten aus der Zeit um 1300 bezeugt, die szenische Darstellungen enthielten (Düsseldorf, K03:F53, Nr. 64.0.1.). Doch bieten bereits Manuskripte vom Beginn des 12. Jahrhunderts wie die anonyme lateinische Kaiserchronik für Heinrich V. Beispiele illustrierter Herrscherfolgen, die mit den Karolingern einsetzen und dementsprechend auch den thronenden Karl mit Herrscherornat im Bild zeigen (Cambridge, Corpus Christi College, The Parker Library, Ms. 373, 24r). Während im Kontext der Kaiserchroniken die Einzeldarstellung des Herrschers, der die Insignien präsentiert, vorherrscht, ist in den Illustrationen der ›Chronica sive historia de duabus civitatibus‹ betitelten Weltchronik des Otto von Freising die Herrscherdarstellung in einen narrativen Kontext eingebunden (Jena, Ms. Bos. q. 6, 67v; Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Ms. F 129 sup., 77r). Diese Illustrationen sind daher als bildliche Voraussetzungen für die Bildfolgen zum ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad zu betrachten, zumal sie durch die Verwendung unkolorierter Federzeichnungen auch im Hinblick auf die künstlerische Technik Vergleichsstücke bieten.
In den illustrierten Exemplaren der deutschsprachigen Weltchroniken unterscheiden sich die Darstellungen Karls des Großen je nach Texttradition deutlich. Die Illustrationen, die sich in zwei Handschriften der ›Sächsischen Weltchronik‹ vom Beginn des 14. Jahrhunderts erhalten haben, konzentrieren sich auf Karl, seine Krönung und seinen Zeitgenossen Papst Leo III. (Bremen, msa 0033, 56rb, 56va; Berlin, Ms. germ. fol. 129, 68r, 68v). Dagegen zeigen Bilder zur Weltchronik Heinrichs von München, orientiert an dem Bericht der ›Kaiserchronik‹, als Szenen der herrschaftlichen Legitimation die Schwertübergabe an Karl durch einen Engel und seine Krönung zum Kaiser (z. B. München, Cgm 7377, 262ra, 263rab; New York, The Morgan Library, M 769, 338vb, 340rb). Die bebilderten Abschriften der Weltchronik des Jans Enikel schließlich weisen Bildfolgen von meist fünf bis sieben Szenen zu legendarischen Ereignissen aus dem Leben Karls auf (z. B. München, Cgm 5, 210va–213ra; Heidelberg, Cod. Pal. germ. 336, 263r–273r). Die Illustrationen zur deutschen Fassung der Papst-Kaiser-Chronik des Martin von Troppau schließlich zeigen den karolingischen Kaiser im Gespräch mit Boten, wie etwa die beiden Exemplare aus der Werkstatt Diebold Laubers (Heidelberg, Cod. Pal. germ. 149, 184r, und Cod. Pal. germ. 137, 77r).
Seiner Bedeutung im Rahmen der universalen Historiographie entsprechend nehmen auch die Lokalchroniken immer wieder in Text und Bild Bezug auf den karolingischen Kaiser, wie etwa Wigand Gerstenberg in der ›Chronik der Stadt Frankenberg‹ (Nr. 26A.7.1., 6v, Bd. 3, Abb. 100), Heinrich von Beeck in der ›Kölnischen Chronik‹ (Untergruppe 26A.8., Abb. von Nr. 26A.8.4., 44r und Nr. 26A.8.6., 63r: Bd. 3, Abb. 110, 111), Ernst von Kirchberg in der ›Mecklenburgischen Reimchronik‹ (Nr. 26A.11.1., 6ra), Hermann Bote in der ›Niedersächsischen Weltchronik‹ (Nr. 26A.13.2., 73r) und Jakob Twinger von Königshofen in der ›Straßburger Chronik‹ (Nr. 26A.28.7., 67vb). Dass neben Universal- und Lokalgeschichtsschreibung auch genealogisch orientierte Historiographien der Fürstenhäuser versuchten, Karl den Großen in das eigene »Herkommen« zu integrieren, kann beispielhaft das Geschlecht der Wittelsbacher bezeugen (Untergruppe 45.2. Bayern, insbesondere Nr. 45.2.2.).
Als dritter Überlieferungsstrang ist auf die Präsenz Karls als Nebenfigur in der epischen Literatur zu verweisen, für die im vorliegenden Kontext vor allem der ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach von Bedeutung ist. Bereits die Vorgeschichte, die Kindheit Heimerichs am karolingischen Hof, knüpft eine Verbindung der Familie mit den Karolingern, die später durch die Heirat der Schwester Willehalms mit Karls Sohn Ludwig eine genealogische Fortsetzung findet, die auch im Bild formuliert wird (Wien, Cod. 2670, 6va). ›Willehalm‹ und Strickers ›Karl der Große‹ werden aber auch zuweilen gemeinschaftlich tradiert, sowohl bereits in der um 1260 entstandenen Sankt Galler Handschrift (Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 857) wie auch noch im 15. Jahrhundert (siehe Nr. 66.2.3.). Die rezeptionsgeschichtliche Nähe zu Strickers ›Karl dem Großen‹ dokumentieren darüber hinaus auch einige illustrierte Manuskripte des ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, die ab dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts erhalten sind. So gehören der bereits erwähnte Wiener ›Willehalm‹ (Cod. 2670) ebenso wie die beiden oberrheinischen Handschriften des ›Karl‹ (Nr. 66.2.1. und Nr. 66.2.4.) zu den anspruchsvollsten Werken mittelalterlicher Buchmalerei des deutschsprachigen Raums und stellen eine Ausnahme im Bereich der illustrierten deutschsprachigen Epik dar. Für beide Texte kündet die exquisite Ausstattung mit umfangreichen Miniaturzyklen auf Goldgrund von einer genealogisch-reichsgeschichtlichen Rezeption im Sinne einer »karolingischen Chronik«, die sie mit einem ausgeprägten Repräsentationsbewusstsein verknüpfen (
Selbst die bislang erwähnten literarischen und historiographischen Texte sowie die Rechtsbücher bilden letztendlich nur einen kleinen Ausschnitt der mittelalterlichen Überlieferung, die zumal im französischen Sprachraum zahlreiche weitere – vielfach auch in illustrierten Manuskripten erhaltene – Werke bietet: von der Beschreibung des Spanienfeldzuges, die nach ihrem fiktiven Autor, der sich als Turpin, Bischof von Reims, ausgibt, als ›Pseudo-Turpin‹ bezeichnet wird, über das Epos vom Riesen ›Fierrabras‹ und die Geschichte der vier ›Haimonskinder‹ (
Schließlich war Karl der Große im deutschsprachigen Bereich außerhalb der Tradition illustrierter Handschriften in bildlichen Darstellungen als Stifter, Exemplum und Rechtsgarant über das gesamte Mittelalter hinweg gegenwärtig. In besonderer Weise gilt dies für den Bildtopos der ›Neun Helden‹, der im Spätmittelalter mit unterschiedlichster Intention eingesetzt und von enormer Verbreitung war. Im städtischen Raum wie im Hansesaal des Kölner Rathauses oder am Schönen Brunnen in Nürnberg konnten mit der Serie aus drei antiken Helden (Hector, Alexander, Julius Cäsar), drei Vertretern des Alten Testaments (Josua, David, Judas Maccabäus) und drei christlichen Kämpfern (Artus, Karl, Gottfried von Bouillon) Herrschaftsansprüche, Autonomiebestrebungen und Rechtshoheit der Stadtregierungen demonstriert werden. Nach dem Vorbild fürstlich-genealogischer Repräsentation, wie ihn die ›Neun Helden‹-Teppiche des französischen Hochadels unter anderem des Duc de Berry vorstellten, eignete ihn sich nicht nur der Basler Aufsteiger Mathis Eberler zur Selbstdarstellung an (vgl. die Teppiche, Basel, Historisches Museum). In ähnlicher Absicht integrierte wohl auch der Straßburger Bürger Hans von Hungerstein eine Darstellung der ›Neun Helden‹ in seine individualisierende Bearbeitung der ›Straßburger Chronik‹ des Jakob Twinger von Königshofen (vgl. Nr. 26A.28.6.).