66.2.1. Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 623
Bearbeitet von Kristina Domanski
KdiH-Band 7
1310–1330.
Zürich, Oberrhein oder Breisgau.
Ir Widmung von Jacobus Koning an August Heinrich Hoffmann von Fallersleben von 1826 sowie Inhaltsangabe von Hoffmann von Fallersleben von 1821, von diesem 1850 für die Königliche Bibliothek zu Berlin erworben.
1. | 1ra–20vb | Rudolf von Ems, ›Weltchronik‹, Fragment |
2. | 21ra–23vb |
Stricker, ›Karl der Große‹, Fragment, 21vab: Vv 3949–4030, 22vab: Vv 8141–8224, 23rab: Vv 11091–11178.
Handschrift s
|
Pergament, I (Papier) + 23 Einzelblätter, Foliierung oben rechts mit Bleistift, 275 × 180 mm (seit der Restaurierung durch angeheftete Pergamentstreifen verbreitert auf 275 × 225 mm), zweispaltig, 41 Zeilen für Text 1, 42 Zeilen für Text 2; Textualis, eine Hand, rote und blaue, zweizeilige Lombarden.
alemannisch mit Elementen des Zürcher Dialekts (
23 Miniaturen in Deckfarbenmalerei auf Goldgrund, davon zwanzig zu Text 1 (1v, 2v, 3v, 4r, 5v, 6r, 7v, 8v, 9v, 10r, 11r, 12r, 13v, 14v, 15v, 16r, 17v, 18v, 19v, 20r) und drei zu Text 2 (21r, 22r, 23v), von einer Hand (?) bzw. einer Werkstatt.
Ganzseitige Miniaturen auf Goldgrund mit zweifarbigen Rahmen (200–205 × 130–135 mm), die gegenüberliegenden Rahmenleisten jeweils in derselben Farbe, rot und blau oder rosa und blau. Die erhaltenen Illustrationen sind inmitten der Textpassagen eingefügt, deren Erzählmomente sie darstellen. Über weitere Merkmale des Bildzyklus, etwa ursprüngliche Anzahl und Anordnung der Bilder, lässt sich aufgrund des geringen Bestands von nur drei erhaltenen Blättern keine Aussage treffen. Die Platzierung der Illustrationen entspricht nur beim ersten Bild der St. Galler Handschrift (Nr. 66.2.4.), deren Bildfolge zumindest mittelbar bekannt gewesen sein dürfte. Die zweite Miniatur ist rund 100 Verse früher, die dritte gut 160 Verse später eingefügt.
Hintergrund mit Blattgold belegt. Ornamentale Untergliederung der Bildfläche durch bildparallele Anordnung der Figuren und Landschaftsmotive wie Hügel und Bäume. Bewegung gleichfalls vorrangig auf der bildparallelen Ebene durch seitlich gebeugte Körper und geneigte Baumwipfel, kaum Drehungen in die Raumtiefe. Konturen der einzelnen Bildmotive mit Pinsel in Braun, Schwarz oder der jeweiligen Lokalfarbe nachgezogen, bei roten, blauen und rosafarbenen Gewändern die Säume mit dünner Kontur in Deckweiß abgesetzt. Durchgestaltung der Binnengliederung durch dezente Abschattierung der Lokalfarbe in breiten Pinselstrichen, nur vereinzelt Verwendung einer feinen schwarzen, mit Pinsel gezogenen Linie zur graphischen Differenzierung des Faltenwurfs. Rüstungen (Schwarz auf grauem Grund) und Haartrachten (Rotbraun auf gelbem Grund) graphisch gestaltet. Ornamentale Strukturierung der Baumkronen, bei denen die einzelnen Blätter in ein Rautenmuster eingefügt wurden. Aufrecht stehende Figuren nehmen etwa drei Viertel der Bildhöhe ein.
Die Miniaturen stellen herausragende Beispiele der oberrheinischen Gotik dar, die in dieser Variante auch als »süßer neuer Stil« bezeichnet wird, für den gleichermaßen die Lieblichkeit der Figuren in Habitus und Mimik sowie die entkörperlichte Luminosität der Gewänder kennzeichnend ist. Aufgrund ihrer herausragenden Qualität haben die Illustrationen Anlass zu ausführlichen Diskussionen über Datierung und Lokalisierung gegeben, insbesondere ob sie, wie die paläographischen und dialektischen Eigenheiten des Textes nahelegen (
Die drei erhaltenen Miniaturen zeigen jeweils mehrere Erzählmomente, dabei verdichten und überhöhen sie das Geschehen durch die bildliche Inszenierung, die Beigabe von Motiven, die über den Text hinausgehen, und/oder besondere ikonographische Bezüge.
Bild 1 verbindet abweichend von den bisherigen Deutungen das Speerwunder Rolands mit dem Zug des karolingischen Heeres über die Pyrenäen (21r). Auf einem im Passgang schreitenden Schimmel, der vor dem goldenen Bildgrund zu schweben scheint, reitet Roland einer Gruppe christlicher Kämpfer voraus. Seinen Speer mit der Fahne, die ihm zuvor Karl als Zeichen seiner Statthalterschaft über Spanien verliehen hatte (V 3921), stößt er vom Sattel aus in einen Felsen, in dem der Schaft versinkt alſe in einen teic (V 3949), wie es im unmittelbar folgenden Vers auf der Versoseite desselben Blattes (21v) heißt. Auf dieses wunderbare Geschehen deutet einer der zu Fuß folgenden Kämpfer hin. Die Beratung des Trupps heidnischer Krieger, die in der Bildfläche diametral gegenüber hinter einem Hügel kauern, ist als Vorausdeutung auf die im Text folgende kriegerische Konfrontation zu verstehen.
Im zweiten Bild (22r) zum Tod Rolands erscheint die Hand Gottes, nicht – wie im Text beschrieben – ein Engel, um den Handschuh zurückzunehmen. Der sterbend unter einem Baum lagernde Roland präsentiert zudem auch die beiden anderen Gegenstände, die ihm über Karl von Gott verliehen wurden. In seiner Rechten hält er das Schwert Durndart, während er mit dem Olifant in der Linken einen Heiden erschlägt.
Das dritte erhaltene Bild (23v) zeigt Karl, wie er die leblos zusammenbrechende Alyte auffängt, die ihr Leben aushaucht, als sie vom Tod ihres Gatten Roland und ihres Bruders Olivier erfährt. Ihre schlaffe Körperhaltung mit seitlich geneigtem Kopf und halb geschlossenen Lidern wiederholt ein Motiv, das in der zeitgenössischen Ikonographie der Christus-Johannes-Gruppen als Ausdruck der tiefempfundenen Christus-Minne und compassio des Lieblingsjüngers dient, in der Übertragung auf Alyte deren innige Liebe und die Trauer um die Gefallenen bezeichnet. Ludwig, der Sohn Karls, erhebt die Hände mit einem Gestus der Akklamation und bekundet damit sein Erschrecken über den Tod Alytes, die er nach dem Plan seines Vaters hätte heiraten sollen.
Dem Illustrator dürfte der Bildzyklus der St. Galler Handschrift (Nr. 66.2.4.) oder ein vermittelndes Zwischenstück bekannt gewesen sein. Die Bildkomposition und Szenenauswahl haben sich zwar verändert, da nun mehrere Erzählmomente in einem Bild verschmolzen werden, anstatt sie wie in der älteren Bildfolge in Register und Einzelszenen getrennt zu veranschaulichen. Auf enge Bezüge zum St. Galler Manuskript deutet die übereinstimmende Darstellung des Lanzenwunders hin (26v unten), die hier mit dem Auszug des christlichen Heeres verknüpft wird. Beim Bild des sterbenden Roland (22r) scheinen den Körperhaltungen nach zwei aufeinanderfolgende Szenen der St. Galler Handschrift (50v, unteres Register), der Tod Turpins und Rolands Abwehr des Heiden mit dem Olifant, zu einem Bild zusammen gezogen. Der prominent neben Roland platzierte Topfhelm, der mit besonderer Detailgenauigkeit, einzelnen Nieten und einem kreuzförmigen Atemloch, wiedergegeben ist und in seiner Positionierung demjenigen Turpins in der St. Galler Illustration entspricht, stellt hier jedoch ein in der Erzähllogik überflüssiges Attribut dar, da Roland ja weiterhin einen unversehrten Kopfschutz trägt. Möglicherweise ist er daher als Übernahme bei der Neuredaktion der Bildfolge zu interpretieren.
Goldgrund, Rot, Blau, Gelb, Grün, Rosa, Grau, Weiß.
Weltchronik / Rudolf von Ems; Karl der Große / Der Stricker. Faksimile der Handschrift Ms. germ. fol. 623 der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Kommentarband von
Taf. XXX: 22r. Rolands Tod.