55. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, ›Herpin‹
Bearbeitet von Ute von Bloh
KdiH-Band 6
Im Umkreis der Elisabeth von Lothringen und Nassau-Saarbrücken wurden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vier Chansons de geste in frühneuhochdeutsche Prosa übertragen: ›Herzog Herpin‹, ›Königin Sibille‹ (Stoffgruppe 69.), ›Loher und Maller‹ (Stoffgruppe 79.) und ›Huge Scheppel‹ (Stoffgruppe 116.). Die neuere Forschung ist zwar mehrheitlich davon abgerückt, dass Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und Lothringen – nicht zuletzt aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse – die französische Vorlage selbst in deutsche Prosa übertragen habe (
Wie in den vier Epen insgesamt, werden auch im ›Herzog Herpin‹ historische und politische Konstellationen sowie Personen aus der Geschichte Frankreichs narrativ umgedeutet, wenn z. B. aus Harpin de Bourges (gest. 1109) ein Vasall Karls des Großen wird. Berichtet wird von drei Generationen einer adligen Familie, deren legitime Mitglieder in direkter Linie an einem Erbe beteiligt sind: von Herpin von Burges, von dessen Sohn Lewe und den Enkeln, d. h. den beiden ehelichen Söhnen Lewes (Wilhelm und Ölbaum) und seinem unehelichen Sohn (Gerhart). Jede Lebensgeschichte ist durch fortwährende Verluste und die Rückeroberung oder Wiederherstellung eines Anspruchs gekennzeichnet. Am Anfang steht der Verlust der Herrschaft über Burges, und im weiteren Verlauf verliert nahezu jeder Vertreter aus den verschiedenen Generationen ein Mal, wenn nicht gar zwei Mal, sein angestammtes Erbe und seinen zumeist durch Heirat erworbenen Herrschaftsbereich, einen Ehepartner und einen Erben im Kindesalter, wobei das Erzählte zumal durch das Schema von Verlust und Wiedergewinnung eines Anspruchs / Wiederentdeckung eines Verwandten strukturiert ist. Mit dem Tod der genannten Generationenvertreter und einer in die Zukunft projizierten Rache durch überlebende Erben findet der ›Herzog Herpin‹ ein (vorläufiges) Ende.
Die handschriftliche Überlieferung der Prosaepen ist auf das 15. Jahrhundert beschränkt. Erhalten ist der ›Herzog Herpin‹ in drei Handschriften, die in Berlin (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 464), Heidelberg (Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 152) und Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 46 Novissimi 2º) aufbewahrt werden, (zu einer weiteren, ehemals in der Schlossbibliothek Ansbach aufbewahrten, von dort 1805/06 noch an die Universitätsbibliothek Erlangen abgegebenen und dann verschollenen Herpinhandschrift vgl.
Die ›Herzog Herpin‹-Handschriften sind allesamt illustriert. Dabei handelt es sich um jeweils selbständige Bildausstattungen und -platzierungen, was mit den unabhängig voneinander entstandenen Textfassungen kongruiert. 260 kolorierte Federzeichnungen aus der sog. Henfflin-Werkstatt begleiten die kürzeste Textfassung in Heidelberg (Nr. 55.0.2.: Cod. Pal. germ. 152) in dichter Folge, während die Bilder in der Handschrift in Berlin (Nr. 55.0.1.: Ms. germ. fol. 464) vielfach auf eigens dafür vorgesehenen Seiten den betreffenden Textteilen vorangestellt sind. Ab S. 438 bricht die Bebilderung in der Berliner Handschrift ab. In der Wolfenbütteler Handschrift (Nr. 55.0.3.: Cod. Guelf. 46 Novissimi 2o) wird die Bebilderung ab 44r nach 32 kolorierten Federzeichnungen ebenfalls nicht fortgesetzt.
Den thematischen Schwerpunkt der Bilder in der Wolfenbütteler Handschrift (Nr. 55.0.3.: Cod. Guelf. 46 Novissimi 2o) bildet das phantastische Geschehen um die als Mann verkleidete Herzogin, von der zu Beginn des Epos erzählt wird, während in der Heidelberger Handschrift das gesamte Spektrum der erzählten Welt ins Bild gesetzt ist: Belagerungs- und Schlachtendarstellungen ebenso wie Szenen höfischen Zeremoniells oder höfischen Zeitvertreibs, Zweikämpfe ebenso wie wunderbare Ereignisse. Eine vergleichbare thematische Vielfalt weisen die auf 90 Seiten ausgeführten, unkolorierten Federzeichnungen der Berliner Handschrift auf, die stilistisch die Kupferstiche der beginnenden Neuzeit zu antizipieren scheinen. Doch geraten hier Kampfszenen, Belagerungen und Schlachten mehr in den Hintergrund.
Die sechs Druckausgaben datieren zwischen 1514 und den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts (Nr. 55.0.a. bis Nr. 55.0.f.).