80.2. Losbuch in deutschen Reimpaaren
Bearbeitet von Franziska Stephan
KdiH-Band 8
Das Losbuch in deutschen Reimpaaren stellt 36 Fragen sowie 36 mal 36 Antworten bereit und ist das älteste vollständig erhaltene deutschsprachige Losbuch. Es ist nur in der Handschrift Cod. Ser. n. 2652 in Wien erhalten und stammt aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Laut
Der Wiener Codex zählt zu den insgesamt vier Losbuchhandschriften, die im vorderen Buchdeckel Teile des ursprünglichen Losmechanismus konservieren (siehe auch Nr. 80.3.2., Nr. 80.5.1. und Nr. 80.5.3.). Der Text besteht aus verschiedenen Tabellen mit Buchstaben-Zahlen-Konkordanzen, Fragen, mehreren Reihen von heidnisch-antiken und jüdisch-alttestamentlichen Autoritäten, zwei ganzseitigen Illustrationen sowie einem unvollendeten Kreisschema. Diese selektieren verschiedene Gruppen aus den vorher genannten Autoritäten und greifen diese nach einem unklaren System auf. Auch das Verweissystem der nachfolgenden Tabelle mit Himmelsrichtungen, Planeten, je zwölf Monaten, Tierkreiszeichen und Aposteln sowie abermals einer Buchstaben-Zahlen-Konkordanz erscheint unklar. Aufschluss über den genauen Zusammenhang der einzelnen Etappen könnte der ehemalige Losmechanismus geben, der im Wiener Codex aus zwei in die Innenseite des Vorderdeckels eingelassenen Drehrädern bestand, die bei geschlossenem Deckel über einen nach innen führenden Zahnradmechanismus bewegt werden konnten.
Datierung und Funktionsweise des Einbands bzw. des darin eingelassenen Drehmechanismus wurden unterschiedlich beurteilt.
Die wohl irrtümliche Verbindung des Losbuchs mit einem Astrolab basiert auf der Struktur des Verweissystems und der ihr zugrundeliegenden Zahl 36. Diese steht in Verbindung mit der Dekanlehre, die im Spätmittelalter noch durch Texte wie das ›Astrolabium Planum‹ verbreitet gewesen ist und in der die 36 Dekane je zehn Grad des Zodiakus beherrschen (siehe Stoffgruppe 103a. Prognostiken). Vor diesem Hintergrund wäre die Vorrichtung eines Astrolabs im Deckel des Losbuches als Untermauerung von dessen pseudo-wissenschaftlichem Anspruch zu werten. Daneben zitieren Text und Illustrationen des Losbuchs ohne astrologisch-wissenschaftlich fundierte Basis die Wirkung der Planeten und Tierkreiszeichen auf das Schicksal des Menschen. Die Apostel fügen dem eine weitere, christlich-moralische Kategorie der Schicksalsbeeinflussung hinzu. Die Ausstattung des Losbuchs suggeriert eine gewisse Ernsthaftigkeit der Losermittlung, die durch den mal ernsten und moralisierenden, mal scherzhaften Ton der Lossprüche konterkariert wird. Das ›Losbuch in deutschen Reimpaaren‹ steht damit auf der Schwelle zwischen ernster Prognostik und gesellschaftlicher Unterhaltung. Die aufwendige Ausstattung und deren astrologische Färbung verortet das Losbuch in ein aristokratisch-höfisches Umfeld, in dem eine zu große Astrologiegläubigkeit im gesellschaftlichen Miteinander spielerisch aufgehoben wird (