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80.4. Ortenburger Losbuch

Bearbeitet von Franziska Stephan

KdiH-Band 8

Das Ortenburger Losbuch ist nach dem einzigen bekannten Exemplar aus der Sammlung der Gräflich Ortenburgischen Bibliothek benannt. Die heute in der Berliner Staatsbibliothek befindliche Hdschr. 386 (Nr. 80.4.1.) stammt aus dem späten 14. bis frühen 15. Jahrhundert und beinhaltet 28 Fragen, auf die über vier Verweistabellen von 28 Weissagern mit je 28 Lossprüchen geantwortet wird. Die Lossprüche bestehen jeweils aus zwei Reimpaaren, stehen in ihrer Sequenz fest und beginnen von Kapitel zu Kapitel immer um eine Frage versetzt. Die Verweisstationen der Tabellen führen den Benutzer über Türme aus den vier Erdteilen, die sieben Planeten und 28 Mondtage zu den Losrichtern. Deren Namen entsprechen den arabischen Bezeichnungen der 28 Mondstationen. Aufgrund seiner 28-teiligen Struktur rückt das Ortenburger Losbuch in die Nähe der ›Sortes Regis Amalrici‹, die lange unter dem Titel ›Liber experimentarius‹ bekannt waren und fälschlich dem Bernardus Silvestris zugeschrieben worden sind. Hierdurch steht das Ortenburger Losbuch strukturell auch dem Lunaren Losbuch (Nr. 80.3.) nahe. Wie bei diesem wird im Rahmen des Verweissystems mehrmals auf die verschiedenen Mondstände verwiesen und die Reihe der Losrichter durch die 28 arabischen Mansionenbezeichnungen vorgegeben. Jurchen nennt das Ortenburger Losbuch in ihrer Besprechung von Mondbüchern mit traumbezogenen Fragen daher gleichwertig neben den bekannten Textzeugen des Lunaren Losbuchs (Jurchen [2014] Sp. 241 [C.b. 2a–d]). Beide Losbücher basieren zwar auf einer Bearbeitung der ›Sortes Regis Amalrici‹ unter Einbezug des ›Liber Fatorum‹ (Wien, Cod. 3276, 261r–262v), das Ortenburger Losbuch steht diesem jedoch strukturell näher als das Lunare Losbuch. Anders als das Lunare Losbuch ist dieses zudem um einen Prolog und mehrere Wählscheiben mit Zahlen von eins bis 28 erweitert sowie im Wortlaut der Fragen und Lossprüche variiert (für einen ausführlichen Vergleich der Losbuchtexte und ihrer Vorlagen siehe Heiles [2018] S. 393–395).

Der Losmechanismus des Ortenburger Losbuchs ist unklar. Selbst der Verfasser des Losbuchs spricht im Prolog widersprüchlich von 32 Fragen und Losrichtern anstelle der tatsächlich vorhandenen 28 und gibt Reihenfolge und Nummerierung der Lossprüche fehlerhaft wieder. Der Losmechanismus ist somit gestört. Auch dem spätmittelalterlichen Benutzer scheint die Funktionsweise des Losbuches nicht geläufig gewesen zu sein, da dieses nachträglich fehlerhaft als Geomani betitelt wurde (1v). Heiles erklärt den Losmechanismus folgendermaßen: nicht alle vier Verweistabellen seien zeilenweise zu lesen. Die Systematik der zweiten Tabelle sei vielmehr »sprunghaft« zu verstehen und die Zeilenwahl in deren dritter Spalte mit den 28 Mondtagen abhängig vom jeweiligen Zeitpunkt der Befragung (Heiles [2018] S. 82–88). Damit sei das Ortenburger Losbuch »ein astrologisches Losbuch mit Fragen und seine Antworten somit nicht vom Zufall eines Losinstruments, sondern vom Zeitpunkt der Lektüre abhängig« (Heiles [2018] S. 87). Dies gilt jedoch nur, insofern sich der mittelalterliche Benutzer tatsächlich an die Zeitangaben des Losbuches gehalten hat. In der zweiten Tabelle könnte einer der 28 Mondtage auch durch eine der Wählscheiben als Zufallsgenerator ermittelt worden sein, z. B. über ein stichomantisches Verfahren. Entgegen ihrer geläufigen Einschätzung als »funktionslos« (Keil/Schnell [1989] Sp. 50) oder als nur »illustratives Beiwerk« (Aderlaß und Seelentrost [2003] S. 360) wären die Scheiben damit integraler Bestandteil bei der Losziehung mit dem Ortenburger Losbuch. Eine solche Verwendung wäre vor allem auch bei der Losziehung in der Gruppe sinnvoll, da durch den gemeinsamen Zeitpunkt der Befragung sonst für jeden der Teilnehmer derselbe Losrichter ermittelt werden würde, wohingegen ein die Wählscheiben einbeziehendes Losverfahren das gesamte Spektrum der Losrichter eröffnen würde.

Editionen:

Schmidt (1842) S. 365f. (Nr. 22) [fehlerhaft edierte Auszüge]; Heiles (2018) S. 357–365 [Prolog].