62a. Jenseitsvisionen
Bearbeitet von Kristina Freienhagen-Baumgardt
KdiH-Band 7
Wohin geht es nach dem Tod, was erwartet einen im Jenseits? Diese existenziellen Fragen beschäftigen den Menschen schon immer, und so zeugen bereits seit der Antike Texte mit visionären Darstellungen des Jenseits oder auch Jenseitsreisen von der Auseinandersetzung mit diesem Thema (so beispielsweise die Reise des Er bei Platon, Politeia 10, 614 St 2 A). Dabei sind verschiedene Formen der Vision zu verzeichnen: Entweder die Seele schaut losgelöst vom Körper das Jenseits – so beispielsweise in den mittelalterlichen Texten der ›Visio Tnugdali‹, der ›Visio monachi de Eynsham‹ oder der ›Visio Fursei‹ – oder der ganze Mensch bewegt sich durch Jenseitsräume, zu denen meist Fegefeuer, Hölle und Paradies gehören – so in den ›Visiones Georgii‹, dem ›Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii‹ und der ›Navigatio Sancti Brendani‹, in der die Verbindung von Reisebeschreibung, Jenseitsliteratur und Legendarik besonders greifbar ist. Im Unterschied zu mystischen Visionen, die die Gegenwart Gottes und die unmittelbare Gotteserfahrung thematisieren und den Schwerpunkt auf Begegnungen mit Christus legen (»Christusminne«, zur Passionsmystik vgl. auch die Stoffgruppen 44. Geistliche Lehren und Erbauungsbücher und 93. Mystische Betrachtungen und Traktate), behandeln die Texte vorliegender Stoffgruppe in der anschaulichen Form einer Reise ins Jenseits Themen wie Strafe und Belohnung, Schuld und Bekehrung und vermitteln so lehrhafte oder auch politische Inhalte. Daher mag es nicht überraschen, dass bei den deutschsprachigen illustrierten Handschriften in der Mitüberlieferung zur Visionsliteratur dezidiert didaktisch ausgerichtete Werke wie beispielsweise Hugos von Trimberg ›Renner‹ (in zwei Handschriften der ›Visiones Georgii‹: Nr. 62a.2.1., Nr. 62a.2.8.) oder auch Reisetexte wie Johann von Mandevilles ›Reisen‹ (Nr. 62a.1.1., Nr. 62a.2.3.) zu finden sind. Da einer Person, die die Schwelle zum Jenseits übertreten hat, eine Auszeichnung zuteil wird und sie damit vorbildgebenden, legendenbildenden Charakter bekommen kann, finden derartige Texte oftmals Platz in Legendensammlungen – so beispielsweise die Vision des Patricius in der ›Elsässischen Legenda Aurea‹ (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 144, 338r, vgl. Stoffgruppe 74. Legendare) –, oder das Thema wird in separaten Heiligenlegenden dargestellt (Stoffgruppe 51. Heiligenleben, hier Nr. 51.6. Brandan, Nr. 51.26. Patricius). In der Stoffgruppe Jenseitsvisionen werden die illustrierten Handschriften der Texte behandelt, in denen die Jenseitsvisionen und -reisen eine abgeschlossene inhaltliche Einheit bilden, dies ausgehend von der Zusammenstellung bei
Basierend auf den eschatologischen Schriften des Judentums und der Johannesapokalypse entstehen bereits im 5. Jahrhundert Texte, die Jenseitsvisionen enthalten, wie die ›Visio S. Pauli‹, die auch in verschiedene Volkssprachen übertragen wurde (vgl. hierzu:
Illustriert ist keine der deutschsprachigen ›Visio Pauli‹-Handschriften. Der mit kolorierten Federzeichnungen ausgestattete Codex Colmar, Bibliothèque municipale, ms. 306 (vgl. Beschreibung der Handschrift in den Stoffgruppen 73. Leben Jesu und Passionsschriften und 100. Pilger- und Reisebücher) enthält zwar einen Textausschnitt der ›Visio Pauli‹ (276rb–277vb), eingebettet in den ›Spiegel des Leidens Christi‹, die Federzeichnungen sind hier jedoch nicht der ›Visio‹ beigestellt, ebenso wenig wie in der Handschrift Krakau, Bibioteka Jagiellońska, Ms. Berol. germ. quart. 1870, in der vier Blätter aus der Prosaübersetzung I der ›Visio S. Pauli‹ überliefert sind (11v–15v), jedoch nur die ›Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts‹ (Nr. 63.5.2.) illustriert sind.
Als Anfang der mittelalterlichen Visionsliteratur können im ausgehenden 6. Jahrhundert die Werke Gregors von Tours (538–594) und die ›Dialogi‹ Papst Gregors des Großen (560–604) betrachtet werden. Im deutschsprachigen Raum beginnt mit der Aufzeichnung der ›Visio Tnugdali‹ (Nr. 62a.1.) um 1149 durch Frater Marcus, einen Iren, dessen Identität nicht geklärt ist, eine breite lateinische und volkssprachliche Überlieferung, innerhalb derer allerdings nur eine französische Handschrift eine Illustration aufweist. In der deutschsprachigen Überlieferung besitzen wir nur eine Handschrift der Übersetzung C mit Freiräumen, jedoch eine breite auf der Übersetzung D basierende Drucküberlieferung. Das umgekehrte Phänomen – eine größere Anzahl illustrierter Handschriften, aber keine illustrierte Drucküberlieferung – lässt sich für die ›Visiones Georgii‹ (Nr. 62a.2.) feststellen, deren lateinische Überlieferung in 20 Handschriften von der deutschsprachigen mit 27 Handschriften übertroffen wird. Fünf dieser Handschriften sind illustriert, in fünf weiteren Handschriften sind Freiräume für Illustrationen vorhanden. Zwei der Handschriften mit Freiräumen zeichnet Nikolaus von Astau (wohl kurz vor 1400, vgl.
Weiterhin illustriert ist der ursprünglich lateinische Text ›Visio Philiberti‹ (Nr. 62a.3.), der einen völlig anderen Charakter aufweist als die ›Visiones Georgii‹ oder die ›Visio Tnugdali‹. Während in diesen Texten der Fokus auf der Bewegung von Körper oder Seele im Jenseits liegt, sieht der Einsiedler Philibertus in einer Vision ein Streitgespräch zwischen Seele und Körper über die Schuld an der Sünde, so dass der Text damit inhaltlich auf die Themen Ars moriendi und Memento mori (Stoffgruppe 9. Ars moriendi/Memento mori) hinweist. Illustriert ist dieser in unterschiedlichen Ausformungen überlieferte Text in wenigen Handschriften (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 2667; Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen A III 54; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2880; Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. germ. oct. 17) sowie in sechs Drucken (
Für ihre Mitwirkung bei dieser Stoffgruppe danke ich Ulrike Bodemann (Nr. 62a.1.a. – 62a.1.f. und 62a.3.) und Kristina Domanski (Nr. 62a.2.10.).