38.3. Hans Talhoffer, Fechtbuch
Bearbeitet von Rainer Leng
KdiH-Band 4/2
Die insgesamt neun auf den oberdeutschen Fechtmeister Hans Talhoffer zurückgehenden Handschriften zeichnen sich durch einen vergleichsweise geringen Textanteil aus. Als Auftakt oder Einschub wurden gelegentlich eine kurze anonyme Fechtlehre bzw. Teile von Liechtenauers Fechttexten verwendet (Nr. 38.3.1., 38.3.3–5., Nr. 38.3.8.). In einem Fall wurde Meister Otts ›Ringkunst‹ (38.3.3.) mitüberliefert und daran vermutlich eigene Bilder angeschlossen, die sich auch in anderen Talhoffer-Handschriften finden. Zwei Handschriften gehen eine Überlieferungsgemeinschaft mit Teilen des ›Bellifortis‹ ein (38.3.3. und 38.3.4.), wovon eine zusätzlich um die Namenmantik Hans Hartliebs und weitere Texte ergänzt wurde (38.3.3.). Immerhin vier Überlieferungen sind jedoch abgesehen von einzelnen Kurzbeischriften zu den Illustrationen textlos (Nr. 38.3.2., Nr. 38.3.6., Nr. 38.3.7., Nr. 38.3.9.).
Die älteste, vermutlich unmittelbar von Talhoffer in Auftrag gegebene Handschrift datiert aus den Jahren kurz nach 1443 (38.3.3.), die letzte mit seinem Namen versehene und vermutlich noch zu Lebzeiten hergestellte Überlieferung stammt aus dem Jahr 1467 (38.3.6.). Aus den Jahren dazwischen stammen drei weitere Handschriften (38.3.2., Nr. 38.3.4., Nr. 38.3.5.). Nur eine Handschrift des 15. Jahrhunderts fällt vermutlich in die Jahre nach Talhoffers Tod (Nr. 38.3.8.); dem 16. Jahrhundert gehören drei Abschriften an (38.3.1., Nr. 38.3.7., Nr. 38.3.9.). Mit Ausnahme einer Handschrift in nordbairisch-fränkischer Schreibsprache (38.3.3.) fallen nach Dialektmerkmalen und überwiegend auch nach Zeichenstil sämtliche Codices in den südwestdeutschen Bereich.
Das Bildprogramm ist vielgestaltig. In den beiden umfangreichsten und vollständigsten Überlieferungen (38.3.4. und 38.3.3.) treten folgende, knapp umrissene Elemente auf: Bildnisse Talhoffers und seiner Auftraggeber, Abbildungen zum Ringen, zum Dolchkampf, zum Kampf mit dem Luzerner Hammer, zum Kampf mit ungleichen Waffen, zum gerichtlichen Zweikampf von Mann und Frau, zum gerichtlichen Zweikampf mit dem langen Schwert und der Lanze im vollen Harnisch, zum Kampf Ungewappneter zu Pferd, zum gerichtlichen Zweikampf nach schwäbischem (mit Stechschild und Schwert) und fränkischem Recht (mit Stechschild und Kolben) sowie zum Fechten mit Schwert und Buckler. In den meisten Handschriften sind nur Teile davon aufgenommen. Kürzungen, aber auch Erweiterungen einzelner Komplexe, sowie Umstellungen sind üblich. In einem Fall wurde der Vorlagenbestand in eine kaum noch mit den älteren Vorlagen in Übereinstimmung zu bringende Serie von Einzeldarstellungen aufgelöst (Nr. 38.3.7.).
Auffällige ikonographische Elemente im Bildprogramm der Talhoffer-Handschriften sind die regelmäßigen Selbstdarstellungen des Urhebers sowie die ikonographische Einbeziehung der Adressaten in Form von Gebetsszenen (oft mit Spruchbändern) oder einer Übergabe der Kampfwaffen vom Meister an den Schüler nach Art einer Schwertleite unter umgekehrten sozialen Vorzeichen. Weiterhin enthalten nahezu alle Handschriften Bilderzyklen mit einer dezidiert erzählerischen Komponente insbesondere zur Darstellung gerichtlicher Zweikämpfe. Die Serien beginnen mit der Unterrichtung des Schülers durch Talhoffer zur Vorbereitung des Zweikampfes. Der Zyklus fährt fort mit einem Bittgebet, der feierlichen Einführung der Kämpfer in den Kampfring durch Grieswärtel mit bereitgestellten Katafalken, den einzelnen Szenen des Kampfes bis hin zum tödlichen Ausgang und endet mit dem Wegtragen der Leiche und dem Dankgebet des Siegers. Die ausführlichsten Szenenfolgen gelten dem Kampf Gewappneter im Kampfring zu Fuß mit dem langen Schwert. In reduzierter Form kommen solche Zyklen jedoch auch bei gerichtlichen Kämpfen mit anderen Waffen vor. Nur zwei der Handschriften haben die erzählerische Komponente nahezu ganz eliminiert (38.3.1. und 38.3.7.). In zwei weiteren Fällen geben die Bilderzyklen jedoch vor, präzise einen realen gerichtlichen Zweikampf des von Talhoffer vorbereiteten Junkers Leutold von Königsegg wiederzugeben (Nr. 38.3.5. und eine Kopie in Nr. 38.3.8.). Eine Handschrift ersetzt den Kombattanten ohne grundlegende Änderung der Szenenfolgen durch die Brüder David und Buppelin vom Stain zum Rechtenstein (38.3.2.).
Im Vergleich zu anderen Fechtbüchern auffällig ist der relativ häufige (für der gerichtlichen Zweikampf jedoch erforderliche) tödliche Ausgang des Kampfes für einen der Beteiligten. Doch auch ohne Einbettung in Szenenfolgen entbehren die meisten Abbildungen nicht einer nahezu blutrünstigen Drastik. Schwerste Verwundungen, durchbohrte Körperteile oder abgeschlagene Gliedmaßen finden sich mit Ausnahme des Ringens in allen Partien. Von kulturhistorischem Wert sind die zahlreichen Abbildungen aus dem sozialen Umfeld der Fechterei in zwei relativ frühen Überlieferungen (38.3.2. und 38.3.4.).
Das Bildprogramm Talhoffers hat zahlreiche Nachahmer gefunden. So ist nahezu der komplette Bildbestand in den Handschriften des Paulus Kal (siehe 38.5.) unter Umformungen erzählerischen Komponenten enger an Talhoffer orientiert. An einzelnen Überlieferungen, die nicht zusammenhängend, aber in größerem Umfang Illustrationen aus Talhoffer-Handschriften benutzen ist insbesondere zu verweisen auf Nr. 38.9.3. und Nr. 38.2.3.
Während die zu Lebzeiten Talhoffers entstandenen Handschriften ein breites und immer wieder variiertes Spektrum aufweisen, sind die späteren Handschriften meist als exakte Kopie einzelner früherer Codices zu erkennen (38.3.1., 38.3.8., Nr. 38.3.9.). Die Kopiertätigkeit hält über das 16. Jahrhundert hinaus noch bis in das 19. Jahrhundert an. Als späte Kopien liegen vor:
Coburg, Landesbibliothek, Inv. Nr. Hz. 14: Ordnung des Kampfrechts, 21 kolorierte Federzeichnungen aus 38.3.3. und 9 in Sepia lavierte Federzeichnungen aus 38.3.6., 2. Hälfte 17. Jahrhundert.
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Philos. 61: Kopien aus 38.3.3. und 38.3.6., Ende 17. Jahrhundert, angefertigt im Auftrag des hannoverschen Staatsmanns Joachim Heinrich Bülow (1650–1724).
München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 394: Kopie von 38.3.6., um um 1820 angefertigt von dem Bibliothekar Julius Hamberger (Amtszeit 1775–1808) im Auftrag des ehemaligen Gothaer Bibliothekars und späteren Direktors der Münchener Hofbibliothek Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll.
München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 395: Kopie von 38.3.3., um 1820 angefertigt von dem Bibliothekar Julius Hamberger (Amtszeit 1775–1808) im Auftrag des ehemaligen Gothaer Bibliothekars und späteren Direktors der Münchener Hofbibliothek Adolf Heinrich Friedrich Schlichtegroll.
Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek, Cod. Guelf. 125.16: unvollständige Kopie aus 38.3.3. (fast ausschließlich die Genrebilder der Versoseiten in präziser Nachahmung), Kopien aus 38.3.6. und Nr. 38.9.8., 17. Jahrhundert.