38.5. Paulus Kal, Fechtbuch
Bearbeitet von Rainer Leng
KdiH-Band 4/2
Die vier auf Paulus Kal zurückgehenden Handschriften entstammen der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und dürften sämtlich in den Jahren 1460–1480 angefertigt worden sein. Drei Überlieferungen (davon zwei auf Pergament) weisen Widmungen an Herzog Ludwig IX. den Reichen (1445–1479) auf (Nr. 38.5.1., Nr. 38.5.3., Nr. 38.5.4.). Sie dürften im Umfeld des bairisch-pfälzischen Hofes entstanden sein. Auch die jeweiligen schreibsprachlichen Merkmale weisen auf bairische Provenienz hin. Jene drei Codices zeigen ein relativ stabiles Text- und Bildprogramm. Sie werden eröffnet mir einer Widmung an den Herzog und Pfalzgrafen; darauf schließt sich ein Kurztext an, der eine fiktive ›Gesellschaft Liechtenauers‹ präsentiert, eine mit Liechtenauer eröffnete und über mehrere Meister bis auf Paulus Kal geführte, generationenähnliche Liste berühmter Fechtmeister. Nur eine der Ludwig gewidmeten Handschriften nimmt darüber hinaus auch weitere nicht illustrierte Texte von Liechtenauer, Meister Ott und Martin Hundfeld auf (Nr. 38.5.4.). Die einzige Überlieferung ohne Widmung ist dagegen völlig textlos (Nr. 38.5.2.). Mit Ausnahme einzelner Spruchbänder entbehren sämtliche Abbildungen erläuternder Beitexte.
Das Bildprogramm schwankt im Umfang zwischen 73 und 168 Federzeichnungen. Thematische Schwerpunkte sind der häufig in doppelseitigen Illustrationen dargestellte Kampf im vollen Harnisch zu Pferd mit Lanzen und Schwertern, der Kampf im Harnisch mit dem Luzerner Hammer, der gerichtliche Zweikampf nach fränkischem Recht, Ringen, der gerichtliche Zweikampf Mann gegen Frau sowie das Bloßfechten mit den Waffen Buckler, Langschwert, Messer und Dolch. Es ist unschwer zu erkennen, daß nahezu sämtliche Abbildungen auf dem Bildprogramm der Fechtbücher Hans Talhoffers beruhen.
An charakteristischen Abbildungen ist vor allem eine in allen vier Überlieferungen am Anfang der Bilderfolgen stehende allegorische Fechterfigur zu nennen. Sie zeigt einen menschlichen Körper mit Falkenkopf, Hirschfüßen und einem Löwen auf der Brust. Die Spruchbänder verweisen auf die Verbindung der Tiergestalten mit fechterischen Grundtugenden: das scharfe Auge des Falken, die Schnelligkeit des Hirsches und den Mut des Löwen. Andere Elemente lassen dafür wieder deutlich das ikonographische Vorbild Talhoffers erkennen, so. z. B. die Selbstdarstellung als Lehrmeister samt der Übergabe des Schwertes an den adeligen Schüler (Nr. 38.5.3.) sowie die Gruppierung zu Szenenfolgen mit narrativer Einbindung in Eröffnungs- und Schlußszenen mit Bittgebet bzw. Dankgebet des von Kal ausgebildeten erfolgreichen Kämpfers an Maria. Während solche Szenen in zwei der Handschriften nur vereinzelt stehen (Nr. 38.5.1. und Nr. 38.5.2.), sind in beiden anderen Überlieferungen nahezu alle einzelnen Szenenfolgen nach diesem Muster komponiert (Nr. 38.5.3. und Nr. 38.5.4.).
Die Rezeption der Illustrationen Kals ist wegen ihrer großen Nähe zu den Abbildungen Talhoffers nicht präzise zu bestimmen. Einzelne Abbildungen oder kleinere Bildfolgen in den verschiedenen Handschriften Jörg Wilhalms (siehe 38.7.), Peter Falkners (Nr. 38.1.5.) oder der Sammelhandschrift olim Donaueschingen, Cod. 862 (Nr. 38.2.3.) scheinen den Illustrationen Kals teilweise näher zu stehen als denen Talhoffers. Auffällig ist jedoch, daß gerade die allegorische Fechterfigur und die ›Gesellschaft Liechtenauers‹ in den Fechtbüchern und Sammlungen des 16. Jahrhunderts keinerlei Widerhall finden. Gerade die jede Tradition nur zu gerne aufgreifenden bürgerlichen Fechtmeister des 16. Jahrhunderts würden diese Stücke mit Begeisterung kopiert bzw. fortgeführt haben. Ihr Fehlen läßt an einer über zufällige Einzelstücke hinausgehenden Rezeption Kals zweifeln.
Edition zu den Handschriften Paulus Kals von Johann Heim, Carsten Lorbeer, Julia Lorbeer, Andreas Meier, Marita Wiedner (vgl. http://www.pragmatische-schriftlichkeit.de/transkription/edition_paulus_kal.pdf).