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70.2. Johannes Hartlieb, ›Kräuterbuch‹

Bearbeitet von Bernhard Schnell

KdiH-Band 7

Die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters und insbesondere die Kräuterbücher sind in der Regel anonym überliefert. Daher wissen wir nicht, welche medizinische Vorbildung der Autor bzw. Bearbeiter oder Übersetzer hatte. Ganz anders ist der Fall bei Johannes Hartlieb, dessen Biographie wir wenigstens in Umrissen kennen. 1439 wurde er an der Universität zu Padua zum Doktor der Medizin promoviert. Man kann daher annehmen, dass er mit der aktuellen lateinischen Medizinliteratur seiner Zeit, speziell mit der aus Norditalien, vertraut war. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte er eine glänzende Karriere als medicus. 1441 wurde er Leibarzt von Herzog Albrecht III. von Bayern-München, dem er bis zu dessen Tod diente. Daneben hat sich Hartlieb schon sehr früh durch zahlreiche literarische Werke als Schriftsteller hervorgetan und dabei eine Reihe von lateinischen Werken ins Deutsche übertragen. Die Zeit der Abfassung seines ›Kräuterbuchs‹ ist nicht bekannt, vermutlich fällt sie aber in die Zeit vor seiner Anstellung am Wittelsbacher Hof, das heißt in das 2. Viertel des 15. Jahrhunderts.

Hartliebs wichtigste Vorlage ist das ›Buch der Natur‹ des Regensburger Domherrn Konrad von Megenberg, dessen Teil V Von den kräutern er mit Ausnahme von drei Kapiteln voll inhaltlich ausschrieb (vgl. Stoffgruppe 20.1.). Mit dem Text übernahm er auch die stoffliche Gliederung: Die einzelnen Kapitel sind hier wie dort alphabetisch nach den lateinischen Namen der Drogen geordnet. Die zusätzlichen 76 Drogenkapitel, die Hartlieb aus anderen Quellen in sein ›Kräuterbuch‹ übernahm, reiht er entsprechend ihrem lateinischen Namen ein, und zwar so, dass sie zumeist en bloc vor oder im Anschluss an die Megenberg-Kapitel des jeweiligen Ordnungsbuchstabens zu stehen kommen. Nicht in diese Systematik fügen sich die ersten elf Kapitel des ›Kräuterbuchs‹, die ohne Rücksicht auf die alphabetische Reihenfolge der Ordnungslemmata tierische Drogen zum Inhalt haben. Insgesamt enthält sein ›Kräuterbuch‹, das weder Prolog noch Epilog aufweist, 173 Kapitel zu elf Tieren und 162 Pflanzen. Unter letzteren befinden sich fünf, die nicht aus dem Pflanzenbereich kommen: die tierischen Produkte Ambra (Kap. 12) und Bibergeil (Kap. 48 Castorium), die mineralischen Wirkstoffe Weinstein (Kap. 155 Tartarus), Siegelerde (Kap. 158 Terra sigillata) und der Stein Diphrigus (Kap. 60).

Hartliebs ›Kräuterbuch‹ ist in fünf Handschriften vollständig und in einer fragmentarisch überliefert. Da diese sechs Handschriften schon mehrfach und sehr ausführlich, so u. a. von Hayer (1998), Spyra (2005) und Hayer/Schnell (2010), beschrieben wurden, werden hier nur noch die wichtigsten Daten mitgeteilt. Ohne die ersten elf Kapitel, die tierische Drogen zum Inhalt haben, ist es zudem in drei Handschriften von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹ inseriert. Dort ersetzt es dessen Teil V über die Kräuter. Auf eine eingehende Beschreibung dieser drei Handschriften wird verzichtet, da sie bereits in der Stoffgruppe 22.1. ausführlich vorgestellt wurden: Nr. 70.2.3. (vgl. Nr. 22.1.6.), Nr. 70.2.4. (vgl. Nr. 22.1.10.) und 70.2.6. (vgl. Nr. 22.1.12.); angeführt wird hier nur die neuere Literatur.

Es gibt in der mittelalterlichen Buchproduktion der Vor-Inkunabelzeit wohl nur wenige Texte, die in ihrem äußeren Erscheinungsbild so einheitlich überliefert wurden wie Hartliebs ›Kräuterbuch‹. Einzig die Handschrift aus Anholt schert von den neun Textzeugen etwas aus. Dabei ist wohl auszuschließen, dass sie alle einer gemeinsamen Produktionsstätte entstammen; das beweisen einerseits die unterschiedlichen Schreibsprachen und andererseits die Text- und Bildvarianten, die die einzelnen Überlieferungsträger aufweisen. Das Erscheinungsbild insbesondere der Vollhandschriften, die innerhalb der schmalen Zeitspanne von ca. 1450 bis 1470 entstanden sind, ist erstaunlich einheitlich. Stets handelt es sich um Papierhandschriften in Quartformat, ihre Größe differiert nur geringfügig (die Spanne beträgt 30 Millimeter in der Höhe bzw. 17 Millimeter in der Breite) und die Seiten sind einspaltig beschrieben.

Die enge Verwandtschaft der Überlieferungsträger zeigt sich schließlich in der Text-Bild-Anordnung: Sämtliche Drogen sind in ganzseitigen Illustrationen dargestellt, die dem Text, unabhängig von seiner Länge, vorausgehen. Bei aufgeschlagenem Codex können so Bild und Text mit einem Blick erfasst werden: die Illustration ist auf der linken, der Versoseite, ihr gegenüber, auf der rechten Seite, steht der dazugehörige Text. Da von beinahe drei Viertel aller Kapitel der Schreiber jeweils weniger als eine halbe Seite benötigt, bleibt so viel Raum unbeschrieben. In den wenigen Fällen, bei denen der Text länger als eine Seite ist, wird er auf der darauf folgenden Versoseite zu Ende geführt; die Illustration des nachfolgenden Kapitels fällt dann entsprechend kleiner aus.

Die Illustrationen konzentrieren sich ausschließlich auf die einzelnen Drogen. Figürliches bzw. szenisches Beiwerk fehlt gänzlich. Eine Ausnahme stellt nur die typische Abbildung der Mandragora (Alraune, Kap. 109) dar, wo stets eine Pflanze in Form eines Menschen zusammen mit einem Hund dargestellt wird, mit dessen Hilfe dieses giftige Zaubermittel aus der Erde herausgezogen wird. Meist wird nur die sichtbare Pflanze visualisiert; die im Erdreich verborgene Wurzel wird nicht abgebildet. Ein Habitusbild, d. h. die Gesamtdarstellung der Pflanze von der Blüte bis zur Wurzel, ist im Gegensatz zu den deutschen Ps.-Apuleius-Abbildungen kein Ziel der Illustratoren. Die Kräuter, Sträucher und Bäume entwachsen auf einem flachen, grünen Bodenstück. Im Vergleich zum etwa gleichzeitigen ›Debrecener Pflanzen- und Tierbuch‹ (70.1.) oder zum späteren ›Gart‹ (70.3.) sind die Hartlieb-Illustrationen außerdem dadurch gekennzeichnet, dass sie alle gerahmt sind. Durch diese Art der Ikonographie zeigt sich, dass die Hartlieb Illustrationen noch stark in der Tradition der lateinischen Enzyklopädien verankert sind, bei denen die Illustrationen keinen eigenständigen naturkundlichen Erkenntnisgewinn anstrebten (Christoph Gerhardt / Bernhard Schnell: In verbis in herbis et in lapidibus est deus. Zum Naturverständnis in den deutschsprachigen illustrierten Kräuterbüchern des Mittelalters. Trier 2002, S. 34).

Ein weiteres Kennzeichen ist die stark stilisierte, naturferne Darstellung der Pflanzen. Etwa die Hälfte der abgebildeten Pflanzen entspricht nicht der im Text behandelten Droge; ihre Darstellungen sind reine Fantasieprodukte und können nicht bestimmt werden, was selbst für viele heimische Pflanzen gilt. Insgesamt lassen sich von den 161 Pflanzen nur etwa zehn eindeutig identifizieren. Bei ihnen handelt es sich durchwegs um einheimische Heilpflanzen: z. B. Kamille (Kap. 37), Zwiebel (Kap. 38), Bohne (Kap. 71), Brennender Hahnenfuß (Kap. 74), Hopfen (Kap. 85), Herbstzeitlose (Kap. 86) und Minze (Kap. 112). Bei den restlichen kann man höchstens von einer gewissen Ähnlichkeit der Pflanze bzw. deren Teile (Blätter, Blüte) sprechen. Typisch für die Hartlieb-Illustrationen ist ferner, dass versucht wird, einige Drogen durch Attribute zu kennzeichnen, d. h. dass die Pflanze durch repräsentative Teile stellvertretend versinnbildlicht wird, etwa durch einen Holzkübel für den nicht winterfesten Majoran. In wenigen Fällen werden sie durch Hinweise auf ihren Standort (z. B. Seerose) veranschaulicht. Die Tradierung der Abbildungen erfolgte, wie die ›Kollation‹ ausgewählter Illustrationen zeigte, in der Regel auf dem Weg der handschriftlichen Überlieferung. Diese zeigt exemplarisch die sehr ausgefallene Darstellung von Castorium (Kap. 48, Drüsensäcke des Bibers). In der Berliner, Wiener und Wolfenbütteler Handschrift (Nr. 70.2.2., Nr. 70.2.8., Nr. 70.2.9.) hängt jeweils ein brauner Drüsensack links und rechts von einem Baum auf einem Ast. Dagegen werden in der Anholter, Heidelberger und Nürnberger Handschrift (Nr. 70.2.1., Nr. 70.2.4., Nr. 70.2.7.) die Drüsensäcke auf einer Stange getrocknet, die von zwei gegabelten vertikalen Stämmen getragen wird. Dabei unterscheiden sich die drei Handschriften geringfügig. Die Anholter und Nürnberger Illustration zeigt vier, die Heidelberger drei Drüsensäcke. Dagegen fehlen bei der Nürnberger die beiden gegabelten Stämme, so dass die Stange in der Luft hängt. Ein Rückgriff auf Bildtraditionen anderer Kräuterbücher oder sogar auf reale Pflanzen kann ausgeschlossen werden. Das Vertrauen des Kopisten in die Bildvorlage scheint allemal größer gewesen zu sein als das Interesse, Bild und Text in Übereinstimmung zu bringen oder gar eigene, direkte Naturbeobachtung in die Gestaltung der Illustrationen einfließen zu lassen.

Vergleicht man die Bilder mit dem Text, so zeigt sich ein eindeutiger Befund: Die Illustrationen sind stets ohne jeglichen Bezug zum Text. Selbst die wenigen und überdies sehr kurzen Stellen, an denen in Hartliebs Werk Hinweise zum Aussehen der Pflanze vermittelt werden, hat der Maler bzw. haben die Maler nicht aufgegriffen. Exemplarisch für das absolute Nebeneinander von Bild und Text seien folgende vier Beispiele angeführt: Die Abbildung des Elefanten (Kap. 9), Castorium (Kap. 48), Mandragora (Kap. 109) und Orpinum (Kap. 124). In allen Abbildungen ist beispielsweise ein Elefant dargestellt, der einen Turm bzw. einen Turm mit einem Haus (oder eine Wehrkirche) trägt. Diese für die mittelalterlichen Illustrationen des Elefanten typische Anordnung hat im Text überhaupt keinen Anhaltspunkt, wo es vor allem um die medizinisch-magische Anwendung des Elfenbeins geht. Ganz analog ist die Abbildung von Mandragora. Auch hier folgt die bildliche Darstellung der mittelalterlichen Bildtradition, in der stets gezeigt wird, wie man mit Hilfe eines Hundes diese geheimnisvolle Giftpflanze aus dem Boden zieht. Hartlieb geht indes auf diese Gewinnung überhaupt nicht ein. Auch dass Orpinum stets als Mauerpflanze dargestellt wird, hat keine Stütze im Text. Über das Aussehen von Castorium ›Bibergeil‹ wird im Text nicht gesprochen. Die Darstellung von getrockneten Drüsensäcken auf einem Baum bzw. einer Stange durch die Hartlieb-Illustratoren leuchtet zwar ein, wird aber nicht durch den Text gedeckt. Vermutlich wurde den Malern nur das Motiv, d. h. die Namen der Drogen, mitgeteilt, nicht aber der Text selbst, nach denen sie eine Illustration anfertigen sollten. Aus den ihnen bekannten Bildtraditionen haben sie dann möglicherweise ihre Auswahl getroffen. Konnten sie sich unter dem Namen einer Droge nichts vorstellen, zumal wenn er nur lateinisch war, so kann es eigentlich nicht überraschen, wenn Phantasiepflanzen zustande kamen. Diese Arbeitsbedingung könnte der Grund für die naturfernen Abbildungen von Hartliebs ›Kräuterbuch‹ sein.

Schließlich weisen die Bildinhalte selbst innerhalb der Überlieferung eine erstaunlich geringe Variationsbreite auf. Daraus ist zu schließen, dass sie unmittelbar aus ihrer Vorlage übernommen wurden, einer Vorlage, die mutmaßlich Hartlieb selbst zusammengestellt hat. Es ist vorstellbar, dass er diese aus unterschiedlichen Quellen zusammenfügte und somit dasselbe Kompilationsverfahren anwandte wie schon zur Konstituierung seines Textes. Dass Hartlieb dabei auf Abbildungen aus illustrierten Herbarien zurückgriff, ist mehr als wahrscheinlich, lässt sich vorerst mangels moderner Editionen bebildeter Herbarien der Vor-Inkunabelzeit aber nicht nachweisen.

Auffällig ist, dass – ähnlich wie beim ›Debrecener Pflanzen- und Tierbuch‹ – alle Textzeugen, die das Werk vollständig überliefern, das ›Kräuterbuch‹ als separates Buch und nicht, etwa wie bei medizinischen Texten sonst üblich, in Sammelhandschriften überliefern. Einzig auf den noch freien Platz (auf den Lagenenden) wird stets ein festes Korpus von Aderlass-Texten eingetragen. Nur die Anholter Handschrift (Nr. 70.2.1.) macht hier eine Ausnahme, die ausschließlich den Hartlieb’schen Text überliefert, obwohl nahezu 100 Blätter leer sind. War das Ziel, einen medizinischen Text in einer repräsentativen Handschrift zu kreieren?

Editionen:

Johannes Hartlieb, ›Kräuterbuch‹. Zum ersten Mal kritisch hrsg. von Gerold Hayer / Bernhard Schnell. Wiesbaden 2010 (Wissensliteratur im Mittelalter 47).