6. Apokalypse
Bearbeitet von Gisela Fischer-Heetfeld und Norbert H. Ott
KdiH-Band 1
Bilderzyklen zur Apokalypse finden sich in deutschsprachigen Handschriften weit seltener als im lateinischen, französischen oder englischen Bereich. Unter diesen relativ wenigen Codices picturati nehmen die im Deutschordensland entstandenen Handschriften von Heinrichs von Hesler ›Apokalypse‹ einen herausragenden Platz ein: Von den fünf (nahezu) vollständigen Überlieferungszeugen sind drei (Nr. 6.1.1.: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XIII 11; Nr. 6.1.2.: Toruń, Biblioteka Uniwersytetu Mikołaja Kopernika, Rps 44; Nr. 6.1.3.: ebd. Rps 64) mit Illustrationszyklen ausgestattet; mindestens zwei Handschriften der nur in Fragmenten erhaltenen übrigen acht (Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 923/8; ehem. Königsberg, Wallenrodtsche Bibliothek) waren ebenfalls illustriert. Die drei bebilderten Pergamenthandschriften von Heslers ›Apokalypse‹ aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts sind stilistisch und ikonographisch eng miteinander verwandt; sie stammen mit Sicherheit aus derselben Werkstatt, in der vermutlich westlich geschulte Miniaturisten arbeiteten.
Ihre Sonderstellung basiert nicht nur auf der überaus anspruchsvollen Ausstattung mit Deckfarben und Gold, sondern auch auf der durchgängigen Tendenz der Bilderreihen, im Gegensatz zu den enthistorisierten englisch-französischen Zyklen mit ikonographischen Mitteln zeitgeschichtliche Bezugnahme herzustellen. So klingt in verschiedenen Bildern joachimitisches Gedankengut an, und es werden deutliche Signale gesetzt hinsichtlich Auftraggeber und Benutzer, den Deutschen Orden: Mitunter sind die dargestellten Ritter als Deutschordensritter gekennzeichnet; ein in den Zyklus integriertes Bild zeigt die Taufe von Heiden und Juden durch Ordensangehörige; die Darstellung einer Marienkrönung in der Miniatur des Jüngsten Gerichts spielt offensichtlich auf die Bedeutung Marias für den Orden an. Möglicherweise steht der Ordenshochmeister Luder von Braunschweig (um 1275–1335) als Auftraggeber dahinter – zumindest bei der Stuttgarter Handschrift, in der 52vc das braunschweigische Wappen abgebildet ist (siehe
Gegenüber der geschlossenen Gruppe der Hesler-Codices wirken alle übrigen deutschen illustrierten Apokalypse-Handschriften recht einzelgängerisch, sowohl was die tradierten Texte als auch was ihre Ausstattung betrifft. Die Katalog-Untergruppe 6.2. versammelt daher Handschriften mit unterschiedlichsten Apokalypse-Fassungen und -Kommentaren. Das 1472 in der Schweiz entstandene Papiermanuskript Car. VIII 3 der Zentralbibliothek Zürich (Nr. 6.2.6.) enthält am Ende einer Bibel, die nur mit historisierten Initialen ausgestattet ist, einen Zyklus von 41 kolorierten, ikonographisch und stilistisch höchst eindrucksvollen Federzeichnungen zur Apokalypse. Das vermutlich thüringische Ms. Add. 15243 der British Library in London (Nr. 6.2.4.), eine Pergamenthandschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, verkürzt die Bilderfolge englisch-französischer Tradition auf 16 ganzseitige Szenen, ebenfalls in lavierten Federzeichnungen. Alle übrigen in Betracht kommenden Manuskripte enthalten nur Einzelbilder zur Apokalypse: Auf den eingeschobenen Pergamentblättern 1v und 190r der aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammenden elsässischen Papier-Sammelhandschrift Ms. germ. fol. 88 der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Nr. 6.2.1.) stehen zwei ganzseitige Federzeichnungen, die sich – auch wenn die erste Darstellung Heinrichs von St. Gallen ›Marienleben‹ einleitet – inhaltlich und formal auf die Apokalypse beziehen: Christus am als Weinstock gebildeten Baumkreuz mit den zwölf Aposteln, der Taube des Hl. Geistes, Gottvater und Maria (1v), sowie Johannes auf Patmos, die Vision empfangend (190r). Es sind dies die einzigen Illustrationen des Codex, der sonst nur mit figurierten Deckfarbeninitialen – sechs im Apokalypse-Teil – geschmückt ist. Eine gleichfalls im übrigen unillustrierte, auch aus dem 15. Jahrhundert stammende, alemannische Bibelhandschrift der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen (Nr. 6.2.2.) bringt auf der dem Apokalypsetext vorausgehenden Versoseite (176v) die ungerahmte, kolorierte, in ihren darstellerischen Mitteln ziemlich bescheidene Zeichnung des Johannes mit dem Adler. Der erst um 1500 entstandene Cgm 111 der Bayerischen Staatsbibliothek München (Nr. 6.2.5.), ein wohl für ein österreichisches Franziskanerkloster angefertigter Pergamentcodex, der außer einer ›Apokalypse‹ in der Fassung der Koburger-Bibel auch Regel und Testament des hl. Franziskus tradiert, enthält als Titelbild zur Apokalypse eine aufgeklebte ganzseitige Deckfarbenminiatur des Jüngsten Gerichts auf Goldgrund, die aus stilistischen Gründen weit früher als die Handschrift anzusetzen ist.
Die bildliche Ausstattung dieser Manuskripte, in vielem eher zufällig wirkend, fügt sich nicht zu einem ikonographischen Gesamtkonzept wie die Zyklen der Hesler-Handschriften aus dem 14. Jahrhundert. Dies gilt auch für die »xylographischen« Apokalypse-Handschriften mit eingeklebten Holzschnitten aus der Blockbuch-Apokalypse. Da diese Objekte kaum etwas mit den beschriebenen Bildercodices, ikonographisch wie entwicklungsgeschichtlich, verbindet, wurden sie nicht in den Katalog aufgenommen. Ebenfalls unberücksichtigt blieb die ikonographisch und stilistisch sehr interessante Gruppe der bebilderten Apokalypsekommentare des Nürnberger Malers und Organisten Paul Lautensack (1478–1558) aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, deren von Dürer beeinflußte Federzeichnungen nicht zuletzt wegen ihrer reformatorischen Bildersprache über die mittelalterliche Handschriftenillustration bereits hinausweisen.