18. Blumen der Tugend
Bearbeitet von Ulrike Bodemann
KdiH-Band 2
Im deutschen Sprachraum entstanden im 15. Jahrhundert unabhängig voneinander zwei Übertragungen des italienischen ›Fiore di virtù‹, einer Prosaabhandlung über Tugenden und Laster, die gegen Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts entstand und dem Benediktiner Tommaso Gozzadini aus Bologna zugeschrieben wird. Anordnung und Auffassung der 35 im ›Fiore‹ besprochenen Tugenden und Laster sind an der ›Summa theologica‹ Thomas’ von Aquin orientiert; die vier Kardinaltugenden prudenza, giustizia, fortezza, temperanza mit zugeordneten Lastern und verwandten Tugend-Laster-Paaren werden umrahmt von den besonders herausgestellten Tugenden amore und moderanza. Jede Tugend und jedes Laster ist nicht nur begrifflich definiert, sondern tugend- oder lasterhaftes Verhalten wird stets auch durch ein Tiergleichnis illustriert, durch Autoritätenzitate beurteilt und durch eine beispielhafte ›Historie‹ belegt. Der ›Fiore‹ erfreute sich in Italien großer Beliebtheit, neben zahlreichen (ca. 80) Handschriften sind allein bis 1500 mehr als 50 Drucke entstanden (Erstdruck Venedig um 1471 [GW 9913]). Bis ins 19. Jahrhundert diente der ›Fiore‹ in Italien, z. T. in kompilierter oder abbreviierter Form, als Erziehungs- und Erbauungsbuch. Noch im 14. Jahrhundert beginnt eine lebhafte Verbreitung des ›Fiore‹ im gesamten europäischen Raum. Die Rezeption setzt in Frankreich ein; in (z. T. illustrierten) Handschriften und Drucken reich überliefert sind vor allem zwei Versionen, die ›Fleurs de toutes vertus‹ und das ›Chapelet des vertus‹. Ebenfalls noch ins 14. Jahrhundert zu datieren ist wohl auch eine serbokroatische Übersetzung, der weitere, vor allem im 16. Jahrhundert entstehende Übertragungen in andere südosteuropäische Sprachen (Griechisch, Armenisch, Rumänisch, Kirchenslawisch u. a.) folgen. Noch im 15. Jahrhundert schließt sich der deutsche Sprachraum an; die Verbreitung in andere westeuropäische Sprachen ist bislang fast ausnahmslos in der Drucküberlieferung nachgewiesen. In verschiedenen Versionen kursierten die spanische Übersetzung (Handschrift des 15. Jahrhunderts: Valencia, Bibliotheca Universitaria 92–4–24 [Nr. 746]; Erstdruck GW 9975 [Zaragoza: Hans Hurus, um 1488/91]) wie auch die Übertragung ins Katalanische (Erstdruck GW 9971 [Lérida: Heinrich Botel 1489]); die englische Bearbeitung des ›Chapelet des vertus‹ durch John Larke wurde erst im 16. Jahrhundert gedruckt (›Boke of wisdome‹, London: Robert Wyer 1532).
Zahlreiche der italienischen, vorwiegend aus der Emilia Romagna stammenden Handschriften sind bebildert, wobei die Bildauswahl meist eine signalhaft; textgliedernde Funktion der Miniaturen erkennen läßt. Abgesehen von Titelbildern u ä. weicht die Illustrierung der italienischen Handschriften selten von einem Standardprogramm mit 35 Tierminiaturen ab (aus dem 14. Jahrhundert z. B. Siena, Biblioteca Comunale, Cod. I,II,7), die den jedes Tugend- bzw. Lasterkapitel einleitenden Tiergleichnissen zugeordnet sind. Dies gilt auch für die Holzschnittausstattung der frühen italienischen Drucke: Ein erster florentinischer Bildzyklus, erhalten nur in dem als Unikat bekannten Druck von Bartolomeo de Libri 1491 (GW 9925), ist die Vorlage sowohl für die Serie der 35 Textillustrationen des Druckers Matteo Capcasa (Venedig 1492, GW 9926), die mit einer Ausnahme ebenfalls ausschließlich die Tugend- und Lastertiere zum Gegenstand haben, als auch für einen seit 1498 in florentinischen Drucken erscheinenden Bildzyklus; dessen 35 Textholzschnitte sind zumeist zweiszenig, rechts ist das Tugend- oder Lastertier, links zusätzlich ein Exempel dargestellt. Beziehungen dieser norditalienischen Illustrationszyklen zu der älteren süditalienischen Holzschnittserie, die im einzig erhaltenen defekten Exemplar noch Titelbild und 70 Textillustrationen enthält (Messina: Johannes Schade & Rigo Forti ca. 1484 [GW 9960]), scheint es nicht zu geben.
Die einem Bestiarium nahestehenden Tiergleichnis-Teile des ›Fiore‹ prägen also die Bildausstattung der italienischen Handschriften und Drucke nachhaltig; sie werden bezeichnenderweise früh (Ende 14. Jahrhundert) aus dem Gesamtwerk herausgelöst: Unabhängig voneinander griffen der anonyme Autor des Bestiarius ›La proprietà d’alcuno animale‹ (Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod.capp. 200), Franco Sacchetti in seiner Schrift ›Delle proprietà degli animali‹ und Leonardo da Vinci in den ›Studi sulla vita e gli abiti degli animali‹ auf die Tiergleichnisse des ›Fiore‹ zurück.
Die erste Übersetzung des ›Fiore‹ ins Deutsche verfaßte 1411 der landesfürstliche Pfleger und spätere Amtmann an der Etsch Hans Vintler († 1419). Er arbeitete die Prosaabhandlung in Reimpaarverse um und folgte dabei einer bislang nicht genau identifizierten Redaktion der sogenannten ›längeren‹ italienischen Fassung, die das moderanza-Kapitel um einen Anhang mit der Bearbeitung von Traktaten des Albertanus von Brescia erweitert. Vintlers ›Pluemen der tugent‹ liegen in vier illustrierten Handschriften, einer Handschrift mit Bildfreiräumen und einem illustrierten Druck vor. Hinzu kommt eine einzige nicht illustrierte Handschrift (Innsbruck, Universitätsbibliothek, Cod. 961), die auch in der Textüberlieferung eigene Wege geht, indem sie Vintlers Text sorgfältig exzerpiert.
Gegenüber der italienischen Vorlage erweitert Vintler die Tugendabhandlung um eigenes. Er ergänzt die ›Aberglaubensliste‹ und ein Kapitel über menschliche Torheiten als Schluß und fügt zusätzliche Autoritätenzitaten, Exempel und Historien (diese vorwiegend nach der ›Valerius-Maximus-Auslegung‹ Heinrichs von Mügeln) ein. Der Text verliert damit seinen Bestiariencharakter weitgehend und wird zur Exempelsammlung. Diese prinzipiell andere Akzentuierung bewirkt ein vom Italienischen stark abweichendes Illustrationsprogramm in den deutschen Handschriften wie im Druck. Die Tugend- und Lastertierdarstellungen treten zurück hinter eine ausführliche Bebilderung der Historien und Exempel, die zum Teil von Bilderfolgen aus bis zu vier (Innsbrucker Handschrift [Nr. 18.1.2.]: Einsiedler und Engel) oder sechs (die beiden Wiener Handschriften [Nr. 18.1.4., Nr. 18.1.5.]: Hochzeit der Satanstöchter) Einzelillustrationen begleitet sind. Ein Vergleich der sechs Bildzeugnisse läßt dabei eine stufenweise Aufstockung des deutschen Bildprogramms erkennen: Der »Kerntext« des ›Fiore‹ mit seinen Tugend- und Lasterpaaren bis zum Beginn des moderanza- (bzw. mässichait-)Kapitels ist in allen Handschriften in großen Zügen übereinstimmend durchgehend illustriert (bzw. zur Illustrierung vorgesehen: Stockholm, Kungliga Biblioteket, Ms. Vu 75 [Nr. 18.1.3.]). Die Bilderfolge zum Kerntext setzt sich aus den beiden Grundtypen Tierdarstellung und szenisches Handlungsbild zusammen, die Bildthemenbehandlung im einzelnen zeigt Einflüsse der Bestiarien-, Physiologus- und Tierfabelillustration, dazu der Bibelikonographie (Salomo, Kain und Abel, David und Batseba, Ägyptische Plagen, Untergang der Ägypter, Lots Flucht aus Sodom, Simson, Engelsturz, Sündenfall, Schöpfung); engere Berührungen mit der Exempelillustration (Gesta Romanorum, Vitas patrum, Valerius Maximus und Valerius-Maximus-Kommentar Heinrichs von Mügeln) hingegen haben sich bislang nicht nachweisen lassen, auch zur Alexander-Ikonographie (der Alexander-Stoff gehört zu den bevorzugten der Historienauswahl: Alexanders Tod, Alexander und der Dieb, Alexander und der Bettler, Alexander und der Narr, Pausanias tötet Philippus, Alexander und der Knabe mit dem Rauchfaß, Alexanders Verzicht) gibt es keine Verbindung.
Die Ergänzungen des Kerntextes – Vintlers Aberglaubensliste (w. 7694ff.), der aus dem Italienischen übernommene Albertanus-von-Brescia-Anhang (vv. 8510ff.) sowie Vintlers Torheiten-Kapitel (vv. 9397ff.) – werden in der Illustrierung dagegen sehr unterschiedlich behandelt. Sie haben in der Innsbrucker Ferdinandeum-Handschrift (Nr. 18.1.2.) nur ganz sporadisch Bildbeigaben, und auch in der Stockholmer Handschrift (Nr. 18.1.3.) sind hier nur wenige Bilder vorgesehen. Die zwei Wiener Schwesterhandschriften (Nr. 18.1.4., Nr. 18.1.5.) beginnen gewissermaßen das Bildprogramm aufzufüllen; in ihnen ist Vintlers Aberglaubensliste in die kontinuierliche Illustrierung einbezogen, als neuer Bildtyp tritt dabei die zunächst oft enigmatisch wirkende Vorführung von Personen in magischen Situationen bzw. mit zauberfähigen Gegenständen hinzu. Erst die späte Gothaer Handschrift (Nr. 18.1.1.) und die Druckausgabe Blaubirers (Nr. 18.1.a.) vervollständigen dann nach einer gemeinsamen Vorlage die Textbebilderung über das Albertanus-von-Brescia-Kapitel hinaus bis zu Vintlers Torheiten-Kapitel am Schluß. Dialogbilder, Darstellungen zu Sprichwörtern und eine Reihe von Situationsbildern, die zeitgenössische Lebenspraxis widerspiegeln, runden nun die Bildertypologie ab. Die Bildaufstockung scheint einer chronologischen Entwicklung des ikonographischen Programms zu entsprechen, doch ist eine unmittelbare genealogische Abhängigkeit der drei bzw. vier Fassungen voneinander (Fassung 1: Innsbruck, Dip. 877; 1a: Stockholm, Vu 75; 2: Wien, 13567 und Ser.nov. 12819; 3: Gotha, Chart. A 594 und Blaubirer) nicht festzustellen.
Die zweite, von Vintler unabhängige Übersetzung des ›Fiore‹ ins Deutsche entstand wohl 1468 durch Heinrich Schlüsselfelder. Diese Übersetzung ist – abgesehen von einem vermutlich von Schlüsselfelder selbst verfaßten zweiten Albertanus-von-Brescia-Anhang (Ein ander lere vnd anweysung des grossen phylosofo vnd Meisters Albertano ...) – nicht nur in der Textform (wortgetreue Übersetzung unter Beibehaltung der Prosaform) dem Italienischen stärker verpflichtet als die Vintlers, sondern ebenfalls im Bildprogramm der einzigen illustrierten Handschrift (Nr. 18.2.1.). In ihm überschneiden sich zwei auch in der technischen Realisierung sehr unterschiedliche Themenkreise: Vier großformatige Kupferstiche mit den Personifikationen der vier Kardinaltugenden wurden schon von vornherein in die Textabschrift eingepaßt. Die italienische Herkunft der Kupferstiche zeugt von einer sehr engen Vertrautheit des Schreibers oder Auftraggebers der Handschrift mit der zeitgenössischen italienischen Kultur. Hinzu tritt eine Serie von 32 Randzeichnungen (ergänzt um zwei weitere kleine Kupferstiche), die vom italienischen ›Fiore‹-Standardzyklus der Tugend- und Lastertiere beeinflußt scheint, ohne ihm jedoch zu entsprechen: Das Prinzip der ausschließlichen Tierdarstellung wird nicht vollends durchgehalten, und den Texteingriffen Schlüsselfelders folgend sind manche Tiergleichnisse gegenüber dem Italienischen fortgelassen (Galiander, Wildesel, Geier).
Außer in der bebilderten St. Gallener Handschrift (datiert 24. 11. 1468) ist Schlüsselfelders Übersetzung nur in einer weiteren nicht illustrierten Handschrift überliefert; der autographnähere Cod. 106 in scrin. der Hamburger Stadt- und Universitätsbibliothek ist nur wenig älter (datiert 28. 8. 1468) und stimmt bis auf die fehlenden Bilder in seiner Ausstattung (Papier, Einrichtung, Initialschmuck, Rubrizierung) so eng mit der St. Gallener Handschrift überein, daß man einen gemeinsamen Entstehungskontext vermuten kann, ohne daß sich dafür aus dem bislang nicht geklärten Verhältnis der Textfassungen beider Handschriften zueinander und zur italienische Vorlage zuverlässige Anhaltspunkte gewinnen ließen.
- Nr. 14. Bibeln
- Nr. 15. Bibelerzählung
- Nr. 37. Fabeln
- Nr. 47. Gesta Romanorum
- Nr. 126. Tiere