103a.3. Chiromantie
Bearbeitet von Marco Heiles
KdiH-Band 10
Die Chiromantie ist die Kunst des Handlesens und schließt aus der Gestalt der Hand eines Menschen auf dessen Eigenschaften und Schicksal. Ausschlaggebend für die Prognosen sind die Form verschiedener Linien, Erhebungen (Berge, Hügel) und einzelner Zeichen auf der Hand. Dabei wurde bei Männern die rechte und bei Frauen die linke Hand betrachtet. Einige Texte ordnen die Glieder der Hand (Finger, Erhebungen) den Planeten zu und integrieren die Chiromantie dadurch in ein astrologisch-iatromathematisches Weltbild.
Obwohl einige Texte eine griechisch-antike Handlesepraxis bezeugen, wird die Chiromantie in den lateinischen Texten über Wahrsagung und Magie der Antike und des Frühmittelalters nicht erwähnt. Erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts beschreiben Dominicus Gundissalinus (›De divisione philosophiae‹) und Johannes von Salisbury (›Policraticus‹) die Chiromantie zum ersten Mal. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten erhaltenen Handschriften lateinischer Anleitungstexte (›Eadwine-Chiromantie‹ in Cambridge, Trinity College, MS R.17.1, 282r und ›St. Emmeram-Chiromantie‹ in München, Clm 14353, 74v). In ihrer verschriftlichten Form ist die Chiromantie dabei – anders als etwa die zur selben Zeit aus dem Arabischen adaptierte Geomantie – eine eigenständige Entwicklung des lateinischen Europa (vgl.
Die Chiromantie zielt auf die Deutung visuell erfahrbarer Zeichen, die vom Rezipienten erkannt werden müssen. Um dies zu gewährleisten, bedienen sich die chiromantischen Texte von Beginn an nicht nur deskriptiv sprachlicher, sondern auch bildlicher und diagrammatischer Verfahren (
Für den KdiH wurden nur diejenigen deutschsprachigen Chiromantien ausgewählt, die Hand-Zeichnungen aufweisen. Nicht aufgenommen wurden daher die ›Erfurter Chiromantie‹ (s. o.), die ›Linzer Chiromantie‹ (Linz, Landesbibliothek, Hs. 139, 1r–5r; Edition:
Nicht aufgenommen wurden auch die Mitte des 16. Jahrhunderts geschriebene Handschrift München, Cgm 4235 des ›Buchs von der Hand‹ des (Ps.-)Johannes Hartlieb und die ›Raudnitzer Chiromantie‹ der Handschrift Nelahozeves, Lobkowitzsche Bibliothek, Cod. VI Fe 38, S. 1–55, die 31 Handflächen enthält (S. 19–49). Ein Abgleich des von Walther Dolch 1909 für die Archivbeschreibung genommenen Wasserzeichens mit dem Wasserzeichen-Informationssystem (siehe DE4500-PO-69700 und DE4620-PO-69774) ergab, dass diese Handschrift sehr wahrscheinlich um 1563/64 geschrieben wurde.
In ungefährer chronologischer Abfolge wurden folgende Texte erfasst:
- ›St. Galler Chiromantie‹, Süddeutschland/Schweiz, 1. Hälfte 15. Jahrhundert (Nr. 103a.3.6.)
- Ps.-Aristoteles, ›Chiromantie‹, erstmals in Laubach/Wetterau, 1425 (Nr. 103a.3.5., Nr. 103a.3.4.)
- ›Berliner Chiromantie‹, Mittelrhein / Diözese Mainz, um 1445 (Nr. 103a.3.1.)
- ›Grazer Chiromantie‹, rheinfränkisches Sprachgebiet, um 1445 (Nr. 103a.3.2.)
- (Ps.-)Johannes Hartlieb, ›Buch von der Hand‹, erstmals bairischer Sprachraum, um 1480 (Nr. 103a.3.3., Nr. 103a.3.A.)
- ›Heidelberger lateinisch-deutsche Chiromantie‹, Süddeutschland, 15. Jahrhundert (Nr. 103a.3.4.)
- Andreas Corvus, ›Ein schönes Büchlin der Kunst Chiromantia‹, Erstdruck: Straßburg: Johannes Grüninger, 1514 (Nr. 103a.3.a.)
- Johannes ab Indagine, ›Die kunst der Chiromantzey‹, Erstdruck: Straßburg: Johann Schott, 1523 (Nr. 103a.3.b.)
Die Chiromantien der Bayerischen Bild-Enzyklopädie werden zusammen mit den anderen prognostischen Abschnitten dieses Texten in der Untergruppe 103a.5. behandelt (Nr. 103a.5.1., Nr. 103a.5.2.).
Der geografische Schwerpunkt der Überlieferung liegt in Rheinfranken, am Oberrhein und in Bayern.
Wie in der lateinischen Tradition dienen auch in den deutschen Handschriften die Hand-Zeichnungen unterschiedlichen Zwecken. Die ›St. Galler Chiromantie‹ und die ›Chiromantie‹ des Ps.-Aristoteles sind Übersetzungen pseudo-aristotelischer Traktate (Ps.-Aristoteles, ›Chiromantie IV‹, Edition:
Im ›Buch von der Hand‹ und bei Johannes ab Indagine wird das Bildprogramm zudem erweitert. Das Blockbuch des ›Buch von der Hand‹ (Nr. 103a.3.A.) zeigt neben dem erwähnten Widmungsbild außerdem zehn exemplarische Menschenschicksale, die den Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Der Druck des Johannes ab Indagine wird von einem Autorbild und dessen Wappen eingeleitet und kombiniert die Hände mit Abbildungen der sieben Planetengötter. Weitere Kapitel seines Werkes widmen sich der Physiognomie und der Astrologie. Die Bildausstattung der Texte unterstreicht damit den wissenschaftlichen Anspruch der Werke, den allerdings auch die handschriftlich überlieferten Texte bereits formulieren (vgl.
Handleseszenen mit einem gelehrten männlichen Chiromanten, wie sie die lateinische Tradition kennt (Rom, Cod. Pal. germ. 1892, 124v; Andreas Corvus, ›Chiromantia‹, vgl.
Untergruppe 103a.5.