Der geistliche Traktat aus dem 14. Jahrhundert wendet sich an die Freunde Gottes (frúnd gottes) und instruiert sie, nach dem Vorbild Jesu ein übendes bzw. kontemplatives (schoͤwelich) Leben anzustreben; die geistliche Spur führt zu Erkenntnis und zum ewigen Leben. Der Text ist in 22 stuk geistlicher materie eingeteilt. Er legt in je zweigeteilten Kapiteln die wichtigsten Ereignisse von Jesu Leben und Wirken auf Erden auf das innere Geschehen in der Seele und auf die Zukunft in der Ewigkeit aus. Die Kapitel folgen den Hauptstationen des Kirchenjahres von Weihnachten bis Pfingsten; außerhalb der Zählung wird als Abschluss das Jüngste Gericht aufgeführt. Die Kapitel 6–18 (Ereignisse der Passion von der Gefangennahme bis zur Grablegung) werden zudem den Zeiten des Stundengebets zugeordnet. Durch größeren Umfang hervorgehoben sind Kapitel 4 (Linder [1960] S. 269−305; über Gründonnerstag und Abendmahl bzw. die Eucharistie), ferner Kapitel 12 (Linder [1960] S. 330−345; Kreuzigung), Kapitel 17 (Linder [1960] S. 371−385; Kreuzabnahme) und Kapitel 19 (Linder [1960] S. 392−410; Ostern). Die Struktur ist durch häufige Aufzählungen geprägt; so werden etwa in Kapitel 4 die sieben Werke der Barmherzigkeit mit den sieben Gaben des Hl. Geistes parallelisiert und beide ins geistliche Verhältnis Jesu zur Seele transponiert. Der Stil wechselt zwischen erklärenden, die Leser anweisenden Passagen und gebethaften Einschüben in Ich-Form. Die Einhaltung der kirchlichen Gebote ist jedoch kein Thema.
Der Text benutzt allegorische Bilder (z. B. die Seelenkräfte gehúgnisse, vernunft, wille als Jagdhunde; Esel am Palmtag), mystische Vergleiche und Paradoxa, um das Verhältnis von Gott und der Seele zu kennzeichnen (z. B. Gott ist die Finsternis; geistliche Trunkenheit der Seele; grundlose[r] abgrund gottes, Linder [1960] S. 244 [10v]; Aufhebung des Unterschieds zwischen Gott und der Seele, die ihn schaut; die höchste Seligkeit liegt im Nicht-Finden Gottes, den die Seele sucht). Durch häufige Zitate beruft sich der Text auf biblische Quellen (Altes und Neues Testament, II Moses, Jeremias, Psalmen [David], Sprüche Salomons, vor allem Paulus) sowie auf antike und mittelalterliche Autoritäten (Pseudo-Dionysius, Augustinus, Hugo von St. Viktor, Meister Eckhart [Linder (1960) S. 248], Plato, Ambrosius, Gregor, Albertus, Bernhard, Thomas).
Bisher sind 13 Textzeugen bekannt (neun Handschriften nennt Georg Steer, in: 2VL 6 [1987], Sp. 430; vier weitere bei Schneider [1988] S. 333 und Schneider [1996] S. 404). Die älteste Handschrift, aus Basel, stammt aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts (Einsiedeln, Cod. 278, S. 345−394). Der vollständige Text der ›Geistlichen Spur‹ ist jedoch nur in zwei Handschriften überliefert (Heidelberg, Sammlung Eis [früher Schriesheim], Cod. 101 und Krakau, Ms. Berol. germ. quart. 1585 [Nr. 93.6.1.]), die sich jedoch erheblich voneinander unterscheiden; der Rest ist Streuüberlieferung in unterschiedlicher Anordnung der Einzelstücke.
In einigen Handschriften geht dem Traktat von der ›Geistlichen Spur‹ der allegorische Text ›Die geistliche Jagd‹ voran (er handelt von Christus als Einhorn, das von Gottvater und den Seelenkräften gejagt wird). Dieser Text wird in Krakau, Ms. Berol. germ. quart. 1585 als vorreizunge (= Präambel?) dis buͦches (d. i. der ›Geistlichen Spur‹) bezeichnet. Er ist jedoch auch unabhängig als Einzelpredigt überliefert (vgl. Ruh [1980]). Der Krakau-Berliner Textzeuge bietet zudem einen erweiterten Vorspann sowie einen eigenen Schlussteil, der u. a. eine Warnung vor falschen Visionen (geistlichen gesihten) und Stimmen enthält. In den Vorspann sind ferner vier kurze gereimte Mahnreden (Reimprosa) integriert, die abwechselnd einem Engel und einem Teufel in den Mund gelegt sind; sie finden sich auch in anderen Textzeugen, im Einsiedler Codex 278 stehen sie erst an späterer Stelle (S. 384f.).
Problematisch ist die Zuschreibung dieses Textes an Rulman Merswin (1307−1382) durch Linder (1960), der aber die bisher einzige Ausgabe zu verdanken ist. Sie identifizierte den Text in Cod. 101 der Sammlung Eis, 1r−105v (um 1400, aus der Kartause Buxheim stammend) mit einem Werk, von dem im Handschriftenkatalog der Johanniter vom Grünenwörth vom Jahre 1746 im direkten Anschluss an eine Aufzählung der Werke Merswins die Rede ist. Dass Abschnitte des Textes auch in anderen Schriften Merswins auftauchen (dort allerdings in breiterer Fassung, was seinem Stil generell entspricht), könnte sich auch daraus erklären, dass er ihn als Quelle benutzt hat (zu Merswin vgl. auch oben Nr. 93.2. sowie Nr. 44.2.). – Die weitere Überlieferung der ›Geistlichen Spur‹ ohne jeden Bezug zu Merswin war Linder (1960) nicht bekannt. Ihre Bezeichnung des Textes als ›Leben Jesu‹ verkennt überdies dessen Zielrichtung: denn die kurz angesprochenen Lebensstationen Jesu bilden nur jeweils den Ausgangspunkt für Meditationen über Gott und die Seele (vgl. Stoffgruppe 73. Leben Jesu und Passion).
Nur in der Krakau-Berliner Handschrift ist inhaltsbezogener Bildschmuck erhalten (kolorierte Federzeichnungen), und zwar nur im Vorspann. Als Figuren dargestellt sind die dort als Zeugen (gezúg) genannten Evangelisten bzw. ihre Symbole, danach die Sprecher der Mahnreden (Engel und Teufel). Das ganzseitige letzte Bild stellt die im darauf folgenden Text beschriebene Vision Abrahams mit den drei Sonnen am Himmel dar, die auf die Dreifaltigkeit ausgelegt werden.
Der Einsiedler Codex 278 weist lediglich einige florale Verzierungen und figürliche Drolerien auf. Möglicherweise war aber auch in München, Cgm 214, der auf 111ra−122vb einige Textteile der ›Geistlichen Spur‹ in gestörter Reihenfolge enthält, ein Bild vorgesehen: vgl. die Freiräume 116rb und 116v unmittelbar vor dem Text zur Abraham-Vision der drei Sonnen (117ra−rb; vgl. Schneider [1970] S. 51f.).