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93.2. ›Neunfelsenbuch‹ (anonyme Kurzfassung)

Bearbeitet von Christine Stöllinger-Löser

KdiH-Band 9

Das ›Neunfelsenbuch‹, eine mystisch-aszetische Erbauungsschrift, berichtet von der Vision eines Menschen (Der mensche), der im Gebet fremde bilde sieht, die ihm durch eine innere Stimme (Die antwurt) als von Gott gesandte Gleichnisse gedeutet werden. Formal erinnert der in einen Dialog gekleidete Text an Seuses Inszenierungen. Der Autor verschweigt im Explizit seinen Namen bewusst; die Entstehung des Textes wird dagegen genau mit der Fastenzeit 1352 angegeben. Er fordert dazu auf, den ker zu einem gottgefälligen Leben zu vollziehen und beschreibt und deutet die Visionen als Hilfe und Warnung an die Christenheit: Ein hoher Berg mit neun Felsen, auf dem Menschen wohnen, die sehr schön sind (die edlen Seelen nach Gottes Ebenbild), solange sie sich auf dem obersten Felsen befinden, wo ihr Ursprung ist, die aber schwarz wie Kohle werden, sobald sie hinabgehen. Sie werden verglichen mit Fischen, die über wilde Gewässer vom Felsen in die Tiefe fallen, in Netzen gefangen werden oder bis zum Meer gelangen; einige Fische versuchen, die Felsen wieder hochzuspringen und zu ihrem Ursprung zurückzukehren. Die Felsstufen werden als Gleichnisse für den Fall des Menschen bzw. seine Rückkehr zu Gott in neuplatonischer Vorstellung gedeutet. Die Schrift ist in vier ungleiche Teile (rede) gegliedert, deren dritter eine Art Bußpredigt und Ständesatire darstellt, während der vierte die Neunfelsenvision mit ihren Stufen zur Vollkommenheit ausführt.

Der Text ist in zwei deutschen Fassungen und weiteren von diesen abhängigen Bearbeitungen tradiert; er greift bis ins Niederländische aus und hat auch eine lateinische Übersetzung erfahren. Die Überlieferung umfasst sowohl Handschriften als auch Drucke. Die jüngste Zusammenstellung von Lingscheid (2019, S. 17–94) verzeichnet insgesamt 21 Textzeugen der Langfassung sowie 35 Textzeugen der Kurzfassung und und ihrer jeweiligen Bearbeitungen. Die Kurzfassung galt seit Strauch (1902) lange Zeit als die ursprüngliche, obwohl keine ihrer Handschriften vor dem 15. Jahrhundert datiert wird. Die Langfassung stammt von Rulman Merswin und wurde angeblich nach dessen Tod 1382 aufgefunden (vgl. Einleitung zur Untergruppe 44.2.); sie wird bereits im späten 14. Jahrhundert überliefert (im sog. ›Autograf‹, Straßburg, ms. 2798 und im ›Großen deutschen Memorial‹ vom Grünenwörth [siehe Nr. 44.2.1.]; vgl. Krusenbaum-Verheugen [2013] S. 45−74, 209−216). Krusenbaum-Verheugen (2013, S. 433−463) verzichtet darauf, die Priorität einer der beiden Fassungen zu bestimmen; sie definiert deren Unterschiede durch unterschiedliche Zweckbestimmungen (knappe didaktische Glaubens- und Morallehre versus meditativ-kontemplative Textaneignung). Dagegen ermittelt Lingscheid (2013 und 2019) die Priorität der Langfassung und weist für beide Fassungen ihre Nähe zu Terminologie und mystischen Grundvorstellungen Johannes Taulers nach; der Text hat somit als sehr frühe Tauler-Rezeption zu gelten. – Merswins Langfassung hat außerdem noch andere kürzende Redaktionen erfahren, die als sekundär zu werten sind. Ferner existieren lateinische Bearbeitungen: Der Augustinereremit Johannes von Schaftholzheim übersetzte die Langfassung (genannt nur in Straßburg, Archives départementales, H 2184; zur Illustrierung dieser Handschrift vgl. Einleitung zur Untergruppe 44.2.; Lingscheid [2019] S. 24f.). Auch Teile der Kurzfassung sind in zwei verschiedenen Übersetzungen überliefert (vgl. Krusenbaum-Verheugen [2013] S. 291−293; Lingscheid [2019] S. 47, 50).

Das ›Neunfelsenbuch‹ bildete außerdem die Vorlage von Kapitel 60 von Hendrik Herps ›Spieghel der Volcomenheit‹ und seiner Lehre von der Vernichtung des Eigenwillens, und es ist eine der Quellen der niederländischen ›Evangelischen Peerle‹ von 1535/36 (vgl. Ruh IV [1999] S. 225f., 308). Ob die Parallelen zum Traktat ›Von dreierlei geistlichem Sterben‹ einer gemeinsamen Quelle oder direkter Abhängigkeit zuzuschreiben sind, ist nicht endgültig geklärt (vgl. Ruh [2004] Sp. 383f.).

Mit Illustrationen versehen ist nur die deutsche Kurzfassung, und auch sie nur in einer einzigen Handschrift, Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 78.5 Aug. 2o (Nr. 93.2.1.); die beiden Bilder thematisieren die Beauftragung des Autors durch Gott und den allegorischen Inhalt der Schrift. Der Text wird hier zusammen mit den deutschen Schriften Heinrich Seuses überliefert, d. i. mit der Sammlung des sog. ›Exemplars‹, die ihrerseits eine bedeutsame Illustrierung aufweist (vgl. Stoffgruppe 36.); dieser Überlieferungsverbund besteht auch in Bielefeld, Synodalbibliothek, Hs. A 2, geschrieben 1499, hier ohne Bildschmuck, sowie in den beiden ersten deutschsprachigen Seuse-Drucken (1482 und 1512). Eine Zusammenstellung des ›Neunfelsenbuches‹ mit einzelnen Schriften Seuses, vor allem dem ›Büchlein von der ewigen Weisheit‹, findet sich in fünf weiteren Handschriften. Diese weiteren Textzeugnisse sind jedoch ohne Illustrierung (das Bild eines Blockbuch-Fragments im Spiegel des Vorderdeckels von München, Cgm 7248, der 2r−71r das kürzere ›Neunfelsenbuch‹ enthält, ist wohl auf den Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses auf 164r−165r zu beziehen; siehe unter Katechetische Literatur [Nr. 67.6.3.]).

Die beiden genannten Drucke sind dagegen zwar im ›Exemplar‹-Teil illustriert (siehe Nr. 36.0.a. und Nr. 36.0.b.), das ›Neunfelsenbuch‹ dort bis auf geringen nicht textbezogenen Schmuck jedoch kaum: im Druck Augsburg: Anton Sorg, 1482, CXv−CXLVIr (Nr. 36.0.a., GW M44616) nur am Textbeginn eine neunzeilige grüne A-Initiale mit rotem und gelbem Fleuronné; im Druck Augsburg: Johann Otmar für Johann Rynmann, 1512, cc1v−gg4v (Nr. 36.0.b., VD16 S 6097) ebenfalls am Textbeginn (cc1v) eine zehnzeilige weiße A-Initiale auf rotem Grund mit Fleuronné und eine vergleichbare I-Initiale zu Beginn des Kapitels über den ersten Felsen (dd5r); außerdem wird das von zwei Engeln gehaltene Christusmonogramm, das bereits vorne zu Beginn von Seuses Schriften (A2v) verwendet wurde, zwischen dem Schluss des ›Neunfelsenbuches‹ und dem Beginn des Gesamtregisters wiederholt, wodurch der letzte Text dem Gesamtcorpus zugeordnet wird. Möglicherweise spielt jedoch das hinter dem Register (gg7v) platzierte ganzseitige Bild (Kirche auf einem Berg, zu der viele Menschen betend hinaufsteigen, mit der Inschrift Sursum corda) auf die Thematik des ›Neunfelsenbuches‹ an. – Die Holzschnitte des ›Exemplar‹-Drucks werden heute Hans Schäufelein (früher Hans Burgkmair) zugeschrieben.

Der Überlieferungsverbund erscheint auch in der lateinischen Seuse-Übersetzung des Laurentius Surius (Drucke Köln, 1555, 1588 und 1615), wo das ›Neunfelsenbuch‹ nicht mehr erkennbar von Seuses Texten getrennt ist, sondern in veränderter Anordnung, mit Teilen von Seuses ›Vita‹ als dritter Teil der Kompilation noch stärker integriert ist (vgl. Blumrich [1994] S. 194−197). Durch Surius’ Übersetzung erfuhr das ›Neunfelsenbuch‹ eine weitreichende Verbreitung.

Editionen:

Merswins Langfassung: Schmidt (1859); Strauch (1929); Salzani (2010) (italienisch und mittelhochdeutsch). – Kurzfassung: Kollation der Lesarten bei Strauch (1902) S. 242−255; Lingscheid (2019) S. 243–352.