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76.2. Dichtersammlungen in der Manesse-Tradition

Bearbeitet von Nicola Zotz

KdiH-Band 8

Die Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik setzt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und damit etwa ein Jahrhundert nach der Entstehung des Minnesangs ein, eine Verzögerung, die vermutlich mit der Verankerung dieser Gattung in der Mündlichkeit zu erklären ist. Die früheste Überlieferung von Minnesang bietet die sog. Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 357, ca. 1270–1280, in der Forschung Sigle A), die nicht illustriert worden ist. Etwa zeitgleich anzusetzen ist die Entstehung einer Tradition von Dichtersammlungen mit Autorbildern, aus der keine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten ist, auf die aber rückgeschlossen werden kann durch fünf teilweise fragmentarisch überlieferte Handschriften (vier davon um 1300 sowie eine aus der Mitte des 15. Jahrhunderts). Die bekannteste unter ihnen ist die um 1300 zusammengestellte größte und bedeutendste deutsche Lyrikhandschrift überhaupt, die sog. Große Heidelberger Liederhandschrift (oder Codex Manesse, Cod. Pal. germ. 848, in der Forschung Sigle C, hier Nr. 76.2.2.). In Textbestand und Bildprogramm eng mit ihr verwandt ist die kurze Zeit später entstandene, weniger umfangreich und prachtvoll angelegte Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, HB XIII 1, in der Forschung Sigle B, hier Nr. 76.2.5.). Auch die drei erhaltenen Fragmente ähneln diesen beiden Handschriften klar in Anlage, Text und Bildtypen, weshalb diese fünf Textzeugen in einer Untergruppe zusammengefasst sind.

Viele der Handschriften dieser Untergruppe waren von vornherein auf Zuwachs angelegt (freier Platz für Ergänzungen in Nr. 76.2.2. und Nr. 76.2.5.), und man hat an ihnen weitergearbeitet (etliche Nachträge in Nr. 76.2.2., möglicherweise geplante Bildnachträge in Nr. 76.2.5., evtl. ein nachgetragenes Bild in Nr. 76.2.3.). Dass drei der fünf Sammlungen nur fragmentarisch erhalten sind, ist vielleicht mehr als nur ein Zufall der Überlieferung, sondern auch ein Reflex der Tatsache, dass Lieder im 13. Jahrhundert und vermutlich noch länger nicht in fertigen, abgeschlossenen Sammlungen kursierten.

Aus dem Vergleich von Text- und Bildbestand wird deutlich, dass B und C auf eine gemeinsame, vermutlich schon bebilderte Vorlage zurückgehen (*BC), die in den südwestdeutschen Raum zu lokalisieren ist. Das Budapester Fragment (Nr. 76.2.1.) stammt aus dem bayerisch-österreichischen Raum und hängt nicht unmittelbar mit *BC zusammen. Es lässt darauf schließen, dass es auch außerhalb des deutschen Südwestens eine in Text und Bild verwandte Überlieferungstradition gab (hierzu grundlegend Kornrumpf [2008b]), und bewahrt in Text-Layout (einspaltig) und Miniaturen-Stil offenbar eine ältere Stufe (Saurma-Jeltsch [1988] S. 339; Roland [2001] S. 211). Auch das Verhältnis des Nagler’schen Fragments (Nr. 76.2.3.) zum Codex Manesse ist nicht eindeutig zu bestimmen: Zwar sind Textbestand und überliefertes Bild höchst ähnlich, aber weder kommt aufgrund von Textbefunden der Codex Manesse als Vorlage für das Fragment infrage (zuletzt Voetz [2015] S. 87–89) noch kann wegen der Entstehung des Bildes nach 1320 (Roland [2001] S. 212) die Handschrift, der das Fragment angehörte, die Vorlage für den Codex Manesse gewesen sein (anders Voetz [2015] S. 87–89). Eine späte Rezeption des Codex Manesse ist das Troß’sche Fragment (Nr. 76.2.4.), das um 1440 im ostfränkischen Raum entstanden ist und eng, möglicherweise sogar unmittelbar, mit dem Codex Manesse verwandt ist (zuletzt Dingeldein [2012] S. 331). Angesichts der Fragmenthaftigkeit der Überlieferung und der zu erschließenden, aber verlorenen weiteren Text- und Bildzeugen der Minnelyrik wird einmal mehr deutlich, »wie vorläufig jeder Versuch bleibt, die lückenhaften Hinterlassenschaften der Vergangenheit als Zeugnisse geschichtlicher Zusammenhänge und Prozesse zu lesen« (Kornrumpf [2008b] S. 32).

Die Überschrift der Untergruppe »Dichtersammlungen in der Manesse-Tradition« ist insofern nicht unproblematisch, denn der Codex Manesse ist zwar der bekannteste, aber nicht der früheste und offenbar auch nicht der typische Vertreter einer Tradition, in der Dichtersammlungen systematisch mit Autorbildern versehen wurden. Die übrigen vier Handschriften weisen ein einheitliches Konzept der Autordarstellung auf, die den Dichter allein, mit seiner Dame oder im Gespräch mit einem Boten zeigt, was man als Illustration der Minnesang-Sprechsituationen deuten kann: Reflexion eines Ich, Rede zur (oder selten: mit der) Dame, Rede zum Boten. Auf dieses Prinzip griffen die Maler des Codex Manesse zurück und erweiterten es beträchtlich, indem sie als neues ästhetisches Prinzip die Variation dieser Typen entwickelten, die zwar noch erkennbar sind, aber in fast jedem Bild in jeweils eigener Hinsicht abgewandelt werden. Die Bilder erfüllen dabei in allen Handschriften dieser Untergruppe die Funktion, »Minnesang als kulturellen Ausdruck einer kleinen gesellschaftlichen Elite auszuweisen«, innerhalb derer sie allerdings »soziale, geographische und zeitliche Differenzen […] verwischen« (Holznagel [1995] S. 88), so dass die Sammlungen bei aller Variation im Detail dennoch eine deutliche Einheitlichkeit aufweisen.

Vorlagen und Parallelen zur Anlage der hier unter 76.2. versammelten Handschriften sind schwer auszumachen. Darstellungen des schreibenden Autors, wie sie in der volkssprachigen Epik geläufig sind (z. B. bei Rudolf von Ems, 2. Hälfte 13. Jahrhundert), gehen auf die Evangelisten-Ikonografie zurück, können aber hier als Vorbilder ausgeklammert werden (keine Darstellung des Dichters am Schreibpult). Was die Herrscherdarstellung angeht, ist nach Vetter (1978 und 1981) das Kopialbuch von St. Florian (1276 bis 14. Jahrhundert) mit seiner Anordnung nach dem Stand heranzuziehen, das ikonografisch vergleichbare, gerahmte Bilder aufweist (daneben seit Steger [1961] auch die These von David rex als Vorlage). Romanische Lyriksammlungen (grundlegend Anglade [1924]) kommen als Vorbilder für die Anlage nicht in Frage, denn sie bieten Autorbilder nie ganzseitig, sondern in der Regel in Initialen (oder in Marginalien); ikonografisch weisen sie weniger Typen auf: Dichter mit Spruchband, Ritter zu Pferd, selten Interaktion mit Dame (Vetter [1981] S. 65 und vor allem Peters [2001] und [2008] S. 23–37). Für den Codex Manesse sind einige Epenhandschriften zum Vergleich herangezogen worden, die den Malern bekannt gewesen sein können (der wohl in Zürich entstandene Münchner ›Wilhelm von Orlens‹, Cgm 63, siehe Stoffgruppe 138.; die ebenfalls wohl aus Zürich stammende St. Galler ›Weltchronik‹, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 302, siehe Stoffgruppe 135.). Eine große Anzahl von Vergleichsbeispielen ist zusammengestellt im Katalog edele frouwen – schoene man (1991). Einzelne Nachweise von ikonografischen Parallelen (etwa auf Fresken, Tafeln, Truhen, Elfenbeinarbeiten und Gebrauchsgegenständen) bei Vetter (1988b) und Glanz (2005).

Das Interesse am Codex Manesse und seinen Bildern war schon früh groß, wie an der Provenienz der Handschrift abzulesen ist, die häufig den Besitzer wechselte oder verliehen wurde. Ein Beispiel für ihre Rezeption als historische Quelle ist die Kopie der Miniatur Friedrichs von Leiningen (Nr. 13) in der 1598 angefertigten Leiningischen Chronik (Vetter [1988a] S. 153). Melchior Goldast veröffentlichte in seinen ›Paraenetici veteres‹ (1604) die Textcorpora von Nr. 3, 70 und 71 und versah sie jeweils mit einem der jeweiligen Miniatur nachempfundenen Kupferstich. Diese philologische Beschäftigung mit der Handschrift setzten 1746 Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) fort (Vetter [1988a] S. 154–158, Voetz [2015] S. 138–144). Für ihre zweibändige Ausgabe der Texte (1759) war ein dritter Band mit Abbildungen vorgesehen, zu dessen Druck es nie kam; die vermutlich zu diesem Zweck von mindestens zwei Händen angefertigten Pausen von ausgewählten Miniaturen und Wappen werden in Zürich aufbewahrt (Zentralbibliothek, Ms. G 46). Im 19. Jahrhundert begann dann eine beispiellose Rezeption der Bilder, die hier nur angedeutet werden kann; sie dauert bis heute an (Vetter [1988a], Voetz [2015]). Die Romantiker, deren Interesse den Miniaturen als Zeugnissen mittelalterlicher Kleidung und Sitten galt, strebten eine getreue Abschrift der Handschrift samt Abzeichnung der Miniaturen an (Abzeichnungen u. a. durch Friedrich Abel und Friedrich Heinrich von der Hagen); 1844–1854 veröffentlichte von der Hagen 44 lithografierte Umrisszeichnungen. Das erste Faksimile erschien 1852 in Paris, 1856 kam Friedrich Heinrich von der Hagens ›Bildersaal altdeutscher Dichter‹ heraus, als Ergänzung zu seiner ›Minnesinger‹-Ausgabe von 1838. Somit waren die Bilder, stilistisch dem Geschmack und den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts angepasst, breit zugänglich. Als ein einflussreiches Rezeptionsbeispiel seien die frei an die Miniaturen angelehnten Zeichnungen Eduard von Luttichs genannt, die in den 1870er Jahren als Kupferstiche E. Forbergs verbreitet wurden. Die große Anzahl von Minnesänger-Denkmälern des 19. und 20. Jahrhunderts sind wesentlich vom Codex Manesse beeinflusst, ebenso hat er Einfluss auf Kunst und Kunsthandwerk gehabt (Codex Manesse [1988] S. 446–468 mit 686–688, vgl. auch Vetter [1988a] und Thali [2017]).

Literatur zu den Illustrationen:

von Oechelhäuser (1895); Saurma-Jeltsch (1988); Vetter (1988b); Voetz (1988); Holznagel (1995) S. 66–88 und 238–244; Peters (2008) S. 30–54; zu weiterer Literatur siehe die Handschriften, besonders Nr. 76.2.2.