Die mittelalterliche Provenienz ist unbekannt. Späteren Beschriftungen lässt sich entnehmen, dass die drei Pergamentdoppelblätter als Einbände für Weilburgische Stiftsrechnungen von 1678, 1679 und 1680 gedient haben. Die genannten Archivalien zum Walpurgisstift Weilburg werden heute ebenfalls im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden aufbewahrt (Abt. 88, Nr. 970–72). Schmidtke (1995, S. 335) schließt aufgrund der Schreibart aus, dass die Handschrift ursprünglich aus dem Walpurgisstift Weilburg (Lahn) stammt. Eventuell entstand das Fragment in derselben Werkstatt wie Wolfenbüttel, Cod. 404.10 (12) Novi (Nr.74.7.9.), gehörte aber nicht zu dieser Handschrift.
Inhalt: Parallelhandschrift zu München, Cgm 6 (Nr.74.7.7.)
Sommerteil; Teile aus Nr. 115–117, 119, 144, 145, 147, 148, 150, 151 (Angaben zum Textumfang vgl. Schmidtke [1995] S. 330f.)
I. Kodikologische Beschreibung:
Pergament, drei Doppelblätter aus unterschiedlichen Lagen (Seitenzählung 1–6 nach Wiesbadener Archivzählung; neue, im Folgenden verwendete Zählung 1–6 nach Schmidtke [1995, S. 329] entspricht in der Reihenfolge der Wiesbadener Zählung 2, 1, 5, 3, 4, 6), ca. 360 × 263 mm (Maß eines Einzelblattes, Berechnung auf der Basis der Doppelseite 1 durch Schmidtke [1995] S. 329), Textualis, eine Hand, zweispaltig, 47–48 Zeilen, Rubrizierungen, Litterae elevatae.
Schreibsprache:
oberrheinisches Alemannisch.
II. Bildausstattung:
Fünf Deckfarbenminiaturen, ein Miniator.
Format und Anordnung:
Die Miniaturen sind gerahmt und mit Ausnahme der Illustration zu Remigius, die sich innerhalb des Textes befindet, am Textbeginn platziert, 15–16 Zeilen hoch, in der Breite etwa eine Dreiviertelspalte, spaltenbreit nur die Miniatur zu Cosmas und Damian.
Bildaufbau und -ausführung:
Das Bildprogramm folgt demselben Schema wie München, Cgm 6 (Nr.74.7.7.). Eine Einzelbildanalyse findet sich bei Rappl (2015, S. 106–109), eine Gegenüberstellung der Bilder bei Williams-Krapp (2015, S. 97–101). Komposition, Figurenanzahl und Ikonografie sind in allen Fällen deckungsgleich mit der Münchener Handschrift. Abweichungen zeigen sich in Details, die insgesamt den Eindruck einer Vereinfachung vermitteln. Die Miniaturen weisen eine geschlossene Rahmung auf und ähneln dahingehend den lateinischen illustrierten ›Legenda aurea‹-Handschriften. Der Untergrund, auf dem die Figuren stehen, ist nicht zerklüfteter Felsen wie in Cgm 6, sondern ein einfaches grünes Bodenstück, die Binnengründe sind weniger detailreich gestaltet (bei Dorothea, 5rb, statt des floralen Binnengrundes eine große Blume, die Dorothea in der Linken trägt). Die Szenen, eingepasst in den Rahmen, wirken statischer. Zu diesem Eindruck trägt auch die gegenüber Cgm 6 weniger ausgearbeitete Mimik der eher plumpen Figuren sowie die weniger filigrane Zeichnung der Kleidung bei. Auch der Faltenwurf der Gewänder, die perspektivische Wiedergabe der Räume sowie die Erfassung der Proportionen ist weniger gelungen. Die Farben sind flächig aufgetragen, durch aufgesetztes Weiß versucht der Illustrator perspektivische Eindrücke zu gestalten (z. B. der kachelartige Binnengrund zur Cyriacus-Legende, die Einfassung des Rahmens bei Cosmas und Damian). Rappl (2015, S. 106) bemerkt, dass »perspektivische Unstimmigkeiten« in Kauf genommen werden, um die Rahmung nicht zu sprengen (Cyriacus, Standflächen des Galgens mit unrichtiger Perspektive, 1rb; Leodegarius liegt schräg wie eingequetscht in den Rahmen, während er im Cgm 6, 171ra sitzt und das Haupt den Rahmen durchbricht, 6va). Die Hände wirken holzschnittartig, was durch die Umrandung der Konturen mit schwarzem Strich noch betont wird (vgl. das Jesuskind neben Dorothea, 5rb), die runden Gesichter sind schematisch gestaltet, die Körper gedrungen (besonders deutlich bei den Zuhörern des predigenden Remigius, 6ra). Rappl (2015, S. 108) analysiert zusammenfassend, dass der Wiesbadener Codex gegenüber der im Cgm 6 vorhandenen Vielfalt in der Darstellung (unterschiedliche Größenverhältnisse, durchbrochene Rahmung) an Dynamik eingebüßt hat.
Bildthemen:
Fünf Miniaturen zu den Legenden von Cyriacus (1rb, Nr. 116), Cosmas und Damian (3va, Nr. 145), Dorothea (5rb, Nr. 148), Remigius (6ra, Nr. 150) und Leodegarius (6va, Nr. 151). Die Bildthemen sind identisch mit denen in Cgm 6. Allerdings hat der Illustrator bei der Darstellung des Martyriums des Leodegarius den sonderbaren Flügelschmuck am Haupt des Schergen durch einen Judenhut ersetzt und damit die Ikonografie vereindeutigt. Diese im Cgm 6 gezeigten Fittiche sind möglicherweise ein Zeichen für die teuflische Handlungsweise, auf die im Text immer wieder verwiesen wird. Die gezeigte Form der Marter wird im Text nicht erwähnt. Die genannte Vereindeutigung ist auch bei der Darstellung der Zuhörerschaft des Remigius festzustellen (vgl. Williams-Krapp [2015] S. 98), die mit Judenhüten versehen werden.