Ritualmagie (ritual magic) ist ein vor allem von der englischsprachigen Forschung geprägter Begriff zur Bezeichnung magischer Praktiken, in denen verschiedene Entitäten (Teufel, Dämonen, Engel, Gegenstände) beschworen werden, um diese dienstbar zu machen (Fanger [1998]; Láng [2008] S. 38–41). In den mittelalterlichen superstitionskritischen Klassifikationsschemata wurden diese Praktiken häufig als Nekromantie bezeichnet (Klaassen [2019]; Kieckhefer [2022] S. 204–231). Die ritualmagischen Beschwörungen dienen häufig, aber nicht ausschließlich, prognostischen Zwecken (Otto/Heiduk [2021]). Die beschworenen Teufel oder Engel sollen dann Fragen beantworten und beispielsweise die Identität eines Diebes oder den Ort eines Schatzes preisgeben. Ritualmagische Praktiken sind Teil der gelehrten Magie, lehnen sich häufig an die Liturgie an und bedienen sich eines breiten Spektrums von rituellen Handlungen. Typische Elemente sind neben der Beschwörung die Verwendung von geweihten Gegenständen und Weihwasser, Räucherungen, Fasten, das Ziehen magischer Kreise und das Wahrsagen von kindlichen Medien aus spiegelnden Oberflächen (Kristalle, Spiegel, Fingernägel etc.). Die Übergänge zur astralen Bildmagie (vgl. Klaassen [2013] S. 13–80) sind ebenso fließend wie die zur orthodoxen Religionspraxis und zum Exorzismus (vgl. München, Clm 10085, 34r–44r; Chave-Mahir/Véronèse [2015]).
Ritualmagische Texte sind zumeist Anleitungstexte. Sie beschreiben den Ablauf der Rituale und teilen den Wortlaut der Beschwörungen mit. Die Beschwörungstexte wurden aber auch ohne Anleitungen überliefert. Die deutschsprachige Überlieferung ist schlecht erfasst und eine Überblicksdarstellung fehlt. Editionen gibt es nur zu wenigen Texten. Die möglicherweise ältesten deutschsprachigen Anleitungen überliefert das 1321 geschriebene ›Speyrer Arzneibuch‹ der Guteline von Esslingen (Heidelberg, Cod. Pal. germ. 214). Dieses überliefert eine Anleitung zum Wahrsagen aus dem Fingernagel (55va–56vb) und eine Diebesprognostik mittels Kieselsteinen (56vb–57ra). Die überwiegende Mehrzahl der deutschsprachigen Anleitungen ist erst aus dem 15. Jahrhundert überliefert.
Die Abbildungen in den ritualmagischen Texten folgen einem spezifisch magischen Bildprogramm, in dem nicht eindeutig zwischen Schrift und Bild unterschieden werden kann (vgl. Page [2019]). Magische Rituale benutzen magische Zeichen (Charaktere), die häufig weder einen konkreten Laut noch ein konkretes Signifikat repräsentieren und die eher gemalt als geschrieben werden (vgl. Gordon [2014]). Magische Wörter in lateinischer Schrift (verba ignota, nomina dei) oder Zahlen sollen zudem häufig in einer bestimmten geometrischen Position auf einem Pergamentzettel oder einem anderen Gegenstand angebracht werden. Dabei lassen sich runde magische Siegel (sigilla), die häufig im äußeren Ring eine Inschrift tragen und vor allem in Textamuletten versammelt sind, von viereckigen Lamina, die aus Metall oder anderen Beschreibstoffen hergestellt werden und auch in ritualmagischen Praktiken Verwendung finden, und anderen Formen unterscheiden (vgl. Page [2019] S. 435–442). Ein besonderes Merkmal der gelehrten Ritualmagie sind die magischen Kreise, die auf dem Boden gezogen werden und in die sich der Magier während des Rituals stellt oder in denen die herbeigerufenen Teufel oder Engel erscheinen (vgl. Page [2019] S. 445–451). In den Anleitungen werden diese Kreise schematisch abgebildet. Zusammen mit dem Schwert, mit dem sie gezogen wurden, wurden die magischen Kreise zudem zum wichtigsten Attribut der Ikonografie des gelehrten Magiers. Entsprechende Abbildungen finden sich bereits im 13. Jahrhundert in den von Alfons X. von Kastilien verfassten ›Cantigas de Santa Maria‹ (vgl. Escobar [1992]) und seit dem 15. Jahrhundert auch in deutschsprachigen Büchern. Sie begleiten Johannes Hartliebs ›Buch aller verbotenen Kunst‹ (Nr. 2.2.1.), Hans Vintlers ›Blumen der Tugend‹ (Nr. 18.1.1., Nr. 18.1.a.) und Ulrich Tenglers ›Neü Layenspiegel‹ (Augsburg: 1511, VD16 T 339, vgl. Venjakob [2017] S. 139–157). In der deutschsprachigen ritualmagischen Literatur selbst werden jedoch keine Personen abgebildet. Figürliche Darstellung gibt es hier nur von Gegenständen, die in den Ritualen verwendet werden: Spiegel, Schwert, Sieb, Flasche. Diese Darstellungen zeigen auch, wie die magischen Inschriften auf diesen Gegenständen auszusehen haben, und haben somit ebenfalls anleitende Funktion.
Aus der Zeit bis ca. 1520 sind uns acht Handschriften bekannt, in denen deutschsprachige oder lateinisch-deutsche ritualmagische Prognostiken illustriert sind:
Nr. 103a.4.1. enthält eine in Heiles (2019, S. 373f.) edierte Anleitung zur Diebesprognostik mit Kieselsteinen, ähnlich der im ›Speyrer Arzneibuch‹ und in München, Clm 671, 60r (vgl. Heiles [2019] S. 373).
Die Anleitung zur Anfertigung eines magischen Spiegels in Nr. 103a.4.2. ist eigentlich ein lateinischer Text, der hier nur aufgrund seiner deutschsprachigen Überschrift aufgenommen wurde. Denselben Text überliefert auch das von Kieckhefer edierte nekromantische Handbuch München, Clm 849, 37r–38r (vgl. Kieckhefer [1998] S. 236f., 363).
Die Anleitung zum Wahrsagen aus einem Spiegel in Nr. 103a.4.3. (95v–99r) ist Teil der umfassendsten mittelalterlichen deutschsprachigen Sammlung ritualmagischer Texte (65r–111r), die unter anderem auch eine deutsch-lateinische Anleitung zum Siebdrehen (66r–67r, 69v–70v), die Anleitung, einen Teufel in eine Glasflasche zu bannen (99v–101v), und eine elaborierte ritualmagische Anleitung zur Schatzsuche (74r–95v) enthält.
Die letzten drei Handschriften dieser Untergruppe (Nr. 103a.4.4., Nr. 103a.4.5., Nr. 103a.4.6.) überliefern ›Das heilige Almadel‹, eine Anleitung zur Beschwörung von zwölf den Tierkreiszeichen zugeordneten Engeln, die in zwei Versionen vorliegt (vgl. Veenstra [2002]; zur lateinischen Tradition vgl. Veronese [2012]): Das heilige Almadel oder Sanctus Almandel Salominis ist dabei ein Altar aus Wachs. Der Altar besteht aus einer rechteckigen Wachsplatte, in der fünf Davidsterne und nomina dei eingeritzt sind und die auf vier wächsernen Kerzenständern aufliegt. Die Wachsplatte, die Ständer und die in diesen befindlichen Kerzen werden alle aus demselben Wachs hergestellt, dessen Farbe variiert, je nachdem welcher Engel herbeigerufen werden soll. Dazu werden die Kerzen angezündet und Weihrauch unter dem Altar verbrannt (vgl. mit dem Video eines Nachbaus Klaassen [2017]).
Die zwei Handschriften der Bayerischen Bild-Enzyklopädie überliefern zudem Bilder zu ritualmagischen Praktiken ohne entsprechende Anleitungstexte (Nr. 103a.5.1., Nr. 103a.5.2.).