73.13.3. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 82.2 Aug. 2º
Bearbeitet von Kristina Domanski
KdiH-Band 8
Um 1500.
Schwaben.
Keine näheren Angaben zur Besitzgeschichte möglich.
1r–132v |
Johannes von Zazenhausen, ›Passionshistorie‹
Mit Widmung an den Mainzer Erzbischof
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Papier, III + 132 + III Blätter, 280 × 195 mm, Bastarda, eine Hand, einspaltig, 28–29 Zeilen, eine siebenzeilige H-Initiale zu Textbeginn, zwei- bis dreizeilige Initialen bei Abschnittsbeginn, rote Überschriften und Unterstreichungen.
59 kolorierte Federzeichnungen, möglicherweise ein Freiraum für Illustration leer geblieben (6v), dort ein Rahmen eingezeichnet, das Format aber sehr klein im Vergleich zu den übrigen Illustrationen. Eine Werkstatt.
Die Illustrationen hochrechteckig, nahezu ganzseitig, bis auf vereinzelte Ausnahmen (118v). Jeweils mit einer roten Überschriften zu Beginn eines Abschnitts platziert. Einfache rote Leiste als Rahmen.
Zahlreiche Szenen sind in perspektivisch meist gelungene, abwechslungsreich konstruierte Architekturen situiert. Die Landschaftsszenen mit hoher Horizontlinie und atmosphärisch abschattiertem Himmel aus versetzt gestaffelten Hügeln zusammengeschoben und mit wenigen Bäumen oder Büschen besetzt. Bei den Szenen, die Christus am Kreuz (80v–104v) zeigen, wird die Charakterisierung des Handlungsortes auf einen schmalen Grünstreifen reduziert. Große Figuren mit langen Gliedmaßen, voluminösen Köpfen und üppigen Bart- und Haartrachten.
Die Vorzeichnungen durch fein geführte Feder und mehrschichtige, mit feinem Pinsel oder Feder (?) aufgetragene Kolorierung ausgearbeitet. Während unbekleidete Körper anatomisch unbeholfen ausfallen, z. B. 47r, 75r, 84r, verrät die differenzierte Behandlung des Faltenwurfs mit sorgfältiger Abschattierung Vertrautheit und Professionalität. Das Format der Bilder, der Szenenaufbau und die Farbgestaltung lassen an Arbeiten aus der schwäbischen Werkstatt Ludwig Henfflins denken, die für Margarete von Savoyen, die Gattin Ulrichs V. von Württemberg, eine Reihe von Handschriften herstellte. (Vgl. die sämtlich in Heidelberg verwahrten Handschriften: ›Sigenot‹, Cod. Pal. germ. 67, Nr. 29.5.2.; ›Pontus und Sidonia‹, Cod. Pal. germ. 142, Stoffgruppe 102.; ›Herpin‹, Cod. Pal. germ. 152, Nr. 55.0.2.; ›Lohengrin‹ und ›Friedrich von Schwaben‹, Cod. Pal. germ. 345, Nr. 41.0.1.; ›Die Heidin‹, Cod. Pal. germ. 353, Nr. 50.0.1.)
Dieser Werkstatt, die nach ihrem einzigen namentlich bekannt gewordenen Mitarbeiter benannt wurde, kann die vorliegende Handschrift aufgrund deutlicher Unterschiede in der Figurenbildung sicher nicht zugewiesen werden. Gegenüber den Arbeiten der Werkstatt Henfflins zeichnen sich die Figuren durch wesentlich gerundetere Körperproportionen und weniger eckige Bewegungsmotive aus. Die Modellierung der Figuren, insbesondere ihre Massigkeit, aber auch das große Format der Illustrationen sprechen zeitstilistisch für eine Entstehung gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Doch lassen sich auch Eigenheiten bei der Auswahl der Bildthemen und ihrer Inszenierung mit Arbeiten dieser schwäbischen Werkstatt in Verbindung bringen (siehe unten), so dass wahrscheinlich als Vorlage für die gegen 1500 angefertigte Handschrift ein um 1475 entstandener Bildzyklus anzunehmen ist.
1v Salomon auf dem Thron, 4v Verrat des Judas, 5v Die Jünger folgen dem Knecht mit dem Wasserfass (Lc 22,10–13), 7r Jesus und seine Jünger betreten das Haus ihres Gastgebers (Lc 22,13), 7v Abendmahl, Christus reicht Judas eine Hostie, 10r Fußwaschung an Petrus, 11v Abendmahl, Christus reicht einem der Jünger eine Hostie, 13r Abendmahl, Christus reicht Johannes eine Hostie, 13v Abendmahl, Christus reicht Petrus den Kelch, 18r Jesus mit seinen Jüngern auf dem Weg zum Garten Gethsemane hält inne, um sie zu belehren, 19r Gebet am Ölberg, 20r Jesus kehrt zu seinen schlafenden Jüngern zurück, 27v Jesus kehrt zu seinen schlafenden Jüngern zurück, nahezu identisch mit dem vorhergehenden Bild, 29v Die von Judas angeführten Soldaten fallen nieder, 31v Judaskuss, Heilung des Malchus, 33v Christus wird zu Boden geworfen und gefesselt, 36v Verleugnung Petri im Hof des Hauses von Annas, das Paar aus Petrus und der Magd, die in eleganter Manier ihren Rock schürzt und Petrus die Hand auf den Arm legt, erinnert an satirische Darstellungen des altersungleichen Paars, 38v Christus vor Annas, 39v Christus wird vor Annas geschlagen, 41v Christus vor Kaiphas, 42v Christus wird vor Kaiphas von den Juden verleumdet, 46r Kaiphas zerreißt seine Kleider, einer der Umstehenden reißt den anderen am Ohr, ein weiterer schneidet Grimassen, 47r Christus an der Geißelsäule, 49r Judas bringt die Silberlinge zurück, im Hintergrund sein Selbstmord, 51r Christus wird zu Pilatus gebracht, 53v Pilatus redet mit Christus im Gerichtssaal, die Juden schauen durch die Fenster herein, 57v Christus vor Herodes, seiner Kleider beraubt, nur ein weißes Tuch umgehängt, 59v Christus wieder vor Pilatus, 61r Geißelung Christi, 62r Dornenkrönung, im Hintergrund eine Säulengalerie mit Zuschauern, 63r Ecce Homo, 65r Verhör Christi durch Pilatus, dem Titulus nach fragt Pilatus Christus haimlich, ob er Gottes Sohn sei, Pilatus fasst Christus dabei vertraulich am Arm, 68v Pilatus wäscht seine Hände, während Christus abgeführt wird, 70r Christus wird sein Gewand wieder angelegt, 71r Kreuztragung mit Symon von Cyrene, zeitgenössische Stadtansicht als Hintergrund, 72r Kreuztragung, Christus spricht mit den Frauen, sie sollen nicht um ihn, sondern um sich selbst trauern, 75r Kreuzannagelung, 76v Kreuzaufrichtung, 80v Kreuzigung, mit Maria und Johannes und den Schächern, Verspottung durch die Henkersknechte, die Lanze in der Hand eines Zuschauers, der wohl zunächst irrtümlich als Longinus bezeichnet werden sollte, getilgt, die Schächer jeweils an Kreuzen aus unbehauenen Stämmen, 84r Kreuzigung, mit den Schächern, Maria und Johannes, 87v Kreuzigung, Titulus wie vnser frow die blutz tropfen kußt die von dem Crutz uf die erd fielent vnd sie Johannes wider uf húb, 92v Stephaton mit dem Schwamm, 96v Das Zerreißen der Vorhänge im Tempel beim Tod Christi, 99v Den beiden Schächern werden die Glieder zerschlagen, 102r Kalvarienberg, Longinus mit der Lanze, 104v Kreuzabnahme, 109r Die schlafenden Wächter am Grab, 109v Der auferstandene Christus auf dem geschlossenen Grab, 112v Die drei Marien am offenen Grab, ein Engel zeigt ihnen das Tuch, 114r Petrus und Johannes am Grab, Petrus beugt sich hinein, 115r Maria Magdalena und die drei Engel am Grab, Christus als Gärtner, 116r Noli me tangere, 117r Die drei Marien küssen Christus die Füße, 118v Mahl in Emmaus, Christus frontal zwischen seinen beiden Jüngern, 119r Christus erscheint seinen Jüngern, 121r Der ungläubige Thomas, 122r Christus erscheint seinen Jüngern beim Fische fangen, 129v Himmelfahrt, 132r Ausgießung des Heiligen Geistes.
An der Bildfolge fällt – nicht nur im Vergleich zu der Handschrift aus dem Besitz des Grafen von Ysenburg-Büdingen – der Ausbau von Ereignissen zu mehrteiligen Bildsequenzen auf. Für die Vorführung Christi vor Annas werden zwei Szenen eingefügt, bereits drei großformatige Illustrationen zeigen die Begegnung mit Kaiphas. Bei der Kreuzigung schließlich werden die diversen Erzählmomente jeweils einzeln illustriert: Annagelung, Verspottung am Kreuz, Zerreißen des Vorhangs, das Zerschmettern der Gliedmaßen bei den Schächern; insgesamt sind der Kreuzigung zehn Einzelszenen von der Annagelung bis zur Kreuzabnahme gewidmet. Dabei fällt die durchgehaltene continuity der Bebilderung auf, denn die Kreuze der Schächer bestehen jeweils aus unbehauenen Baumstämmen. Zwar finden sich hier deutlich mehr Leidensszenen als in der Büdingener Handschrift, doch wird auch hier keine Entkleidung Christi dargestellt.
Unter den illustrierten Szenen finden sich eine Reihe außergewöhnlicher Ikonografien, wie die beiden Illustrationen, die auf Lc 22,10–13 basieren und zeigen, wie die Jünger auf Weisung Christi zunächst einem Knecht mit Wasserfass bis zu seinem Hausherrn folgen und sich dann im Haus ihres auf diese Weise gefundenen Gastgebers zusammenfinden. Eine derartig eigenwillige Szenenauswahl für die Illustration kann auch anderweitig beobachtet werden. In den drei Szenen, die Christi Vorführung vor Kaiphas behandeln, gilt den Zuschauern bzw. ihrem ungebührlichen Verhalten besonderes Augenmerk. Die Inszenierung des Publikums und des Zuschauens ist an weiteren Illustrationen zu verfolgen, z. B. bei der Dornenkrönung (62r) oder der Unterredung des Pilatus mit Christus (65r).
Auch in der Wolfenbütteler Handschrift berücksichtigt die Szenenverteilung die Ereignisse nach dem Kreuzestod besonders ausführlich, allein fünf Szenen spielen am Grab Christi, sechs weitere zeigen Erscheinungen des Auferstandenen, während der Abstieg in die Vorhölle nicht gezeigt wird.
Das Erzählen im Bild lässt sich durch die dichten Bildsequenzen zu einzelnen Geschehnissen, die ungewöhnliche, in Einzelfällen nahezu skurrile Szenenauswahl, den damit verbundenen Versuch, den geläufigen Ikonografien ein überraschendes Moment abzugewinnen, aber auch die bemerkenswerte Konsistenz charakterisieren. Über diese Eigenheiten, den Modus des Erzählens, lässt sich eine weitere Verbindung zur Henfflin-Werkstatt herstellen.
klare Farben, außer Rot und Grün, vergleichsweise viel Blau und Gelb.
Handschriftencensus;
Abb. 57: 65r. Pilatus befragt Christus, ob er Gottes Sohn sei.