Die Regula Augustini, deren lateinische Überlieferung Verheijen erschließen konnte (Verheijen [1967] Bd. 1, S. 13f.), wurde von Augustinus von Hippo schon im 4. Jahrhundert in mehreren Versionen verfasst, aber erst nach dem vierten Laterankonzil (1215) wurde sie von mehreren Orden übernommen. Deutschsprachige Übersetzungen folgten und wurden nicht nur eigenständig, sondern manchmal auch mit Kommentar, Konstitutionen oder Statuten überliefert.
Im Vergleich zur Gesamtüberlieferung der deutschsprachigen Regel gibt es allerdings wenige erhaltene bebilderte Handschriften. Kramp konnte 73 eigenständige Regelhandschriften (davon 19 niederländisch) und 18 Regelhandschriften mit Kommentar identifizieren (Kramp [2008] S. 16–18, 23f.), und ihre Aussage (S. 15), dass mit weiteren Handschriftenfunden gerechnet werden muss, lässt sich bestätigen, denn zwei der bebilderten Regelhandschriften (Nr. 97.2.3. und Nr. 97.2.5.: jeweils Regeltext mit Statuten, bzw. Konstitutionen) sind ihrer Zusammenstellung hinzuzufügen. Nur drei weitere bebilderte Regelhandschriften sind erhalten. Nr. 97.2.1. beinhaltet eine kommentierte Regel (Pseudo-Hugo von St. Viktor), während die engverwandten Nr. 97.2.2. und Nr. 97.2.4. keine gewöhnliche Augustinerregel enthalten, sondern verkürzte Regeln für Konversen, Laienschwestern und Drittordensleute, die vff dem hof der Dominikanerinnenklöster lebten. Keine der erhaltenen bebilderten Handschriften entstand im Kontext eines Männerklosters, obwohl ein späterer Benutzer von Nr. 97.2.3. die Handschrift dem Gebrauch durch Männer zuschrieb: er verbesserte die Regel schon auf 1v, indem er die Wörter swestern und maistrinn durchstrich und sie durch bruder und probst ersetzte. Vier der bebilderten Handschriften entstanden im dominikanischen Kreis; Nr. 97.2.3. wurde für Augustiner-Chorfrauen geschrieben.
Die deutsche Überlieferung der Augustinerregel ist noch nicht im Ganzen erschlossen. Kramp (2008, S. 23f.) konnte acht deutsche und niederländische Überlieferungszweige des hugonischen Kommentars identifizieren, von denen zwei aus dem dominikanischen Kreis stammen. Nr. 97.2.1. gehört zur »Katharinentaler Übersetzung«, einem Überlieferungszweig, dessen Ursprung eng mit der Inkorporation von Frauenklöstern in den Dominikanerorden und der Ausübung der cura monialium zusammenhing. Kramp (2008) bietet eine Edition von allen acht Überlieferungszweigen (für die »Katharinentaler Übersetzung« siehe S. 44–161). Weitere Editionen basieren auf Einzelhandschriften (Engler [2017] S. 84–99 auf Bern, Burgerbibliothek, Cod. A 53 und Selmer [1937] S. 124–131 auf Villanova [Pennsylvania], University Library, Falvey Memorial Library, OM 5).
Zwei der fünf Handschriften enthalten eine Miniatur, die das Motiv der Regelüberreichung darstellt. Bei Nr. 97.2.3. ist es Augustinus als Bischof mit Regeltext auf dem Schoß, der die Leserin (eine Augustiner-Chorfrau ist anzunehmen) anblickt; bei Nr. 97.2.5. ist es Dominikus (in Dominikanertracht), der das Buch in der Hand hält, während er zwei kniende Schwestern ansieht. Bei den Benediktinern waren Ordensgründer und Regelverfasser ein und dieselbe Person, also war die Wahl der darzustellenden Person einfach. Bei den Dominikanerinnen musste man wählen, was vielleicht dazu beitrug, dass wenige Handschriften das Motiv verwenden. Zwei weitere engverwandte Handschriften (Nr. 97.2.2. und Nr. 97.2.4.) zeigen Laienbrüder, ohne dass ihnen ein Regeltext überreicht wird. Nr. 97.2.1. enthält ein später eingeklebtes Bild des heiligen Laurentius, eine vor ihm kniende Dominikanerin ist ebenfalls ohne Regeltext dargestellt.
Nr. 97.2.5. weist keinen Besitzvermerk auf, aber die Handschrift gehört ohne Zweifel zu einem Überlieferungszweig, dessen Knotenpunkt im Nürnberger Dominikanerinnenkloster war. Die Bibliothek dieses Klosters, die vor allem nach dessen Reform im Jahr 1428 aufgebaut wurde, enthielt mehrere Kopien der Regel, oft zusammen mit den Konstitutionen der Dominikanerinnen und deren päpstlicher Bestätigungsbulle (Willing [2012] Bd. 1, S. 490–494, 496, 502f.). Auch Nr. 97.2.5. enthält diese für Nürnberg typische Konstellation von drei Texten. Dazu hat sie einen Schreiberkolophon, der auch in anderen Nürnberger Handschriften zu finden ist und der ein überraschendes Sprachbewusstsein aufweist: getewtschet nach dem gesprech als czu nurnberg und da pey in Francken land gewanheit ist tewtsch czu reden (39r). Fast identische Aussagen (manchmal mit Verweis auf das Elsässische) gibt es in Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs 7069 (17v), Erlangen, MS.B 18 (12r, 144v, 178r) und Wien, Cod. 2966 (12r, 41v, 109r), jedes Mal zusammen mit den drei deutschsprachigen Texten, die auch in Nr. 97.2.5. zu finden sind.
Der Vergleich endet allerdings bei den ähnlichen Kolophonen und Textkonstellationen, denn von diesen Handschriften ist nur Nr. 97.2.5. bebildert. Um eine vergleichbare Miniatur vom Nürnberger Katharinenkloster zu finden, muss man am Anfang eines lateinischen Textes suchen. Eine auf das Jahr 1431 datierte Handschrift des Katharinenklosters, die sich heute in der Russischen Nationalbibliothek befindet (Barow-Vassilevitch/Heckmann [2016] S. 359, L 182 [olim Leipzig, Deutsches Buch- und Schriftmuseum, Klemm-Sammlung I, 39, beschrieben in Klemm (1884) S. 4]), enthält zwar die deutsche Augustinerregel und die deutschen Dominikanerinnen-Konstitutionen, aber die vergleichbare Initiale (199v) befindet sich vor einer Kopie der Konstitutionen auf Latein. Diese Initiale (abgebildet in Dolgodrova [2012] S. 102) ist wahrscheinlich von der Hand der Schwester Barbara Gwichtmacherin oder einer ihrer Schülerinnen (DeMaris [2015] S. 92–98) und ist wohl die direkte Vorlage von Nr. 97.2.5. In beiden Handschriften steht Dominikus, Buch in der Hand, zwischen zwei proportional kleinen knienden Dominikanerinnen; ihre Haltung, der Fall ihrer Gewänder und die krallenhaften Finger, mit denen die jeweiligen Dominikus-Figuren die Bücher halten, sind fast identisch. Nur die Datierung der zwei Handschriften (1431 und 1491) spricht dagegen, dass die gleiche Schwester beide Miniaturen malte. Als Kunigund Ortlieb mit drei anderen Nürnberger Dominikanerinnen 1483 von Nürnberg nach Regensburg zur Reform des dortigen Klosters geschickt wurde, dürfte sie wohl die Vorlage für eine begrenzte Zeit mitgenommen haben – ein Vorgang, der den Schwestern erlaubt wurde (Steinke [2006] S. 61, Anm. 211). Die frühere Handschrift, die erst drei Jahre nach der Reform des Katharinenklosters geschrieben wurde, enthielt die wichtigen Basis-Texte des Ordens nicht nur auf Latein, sondern auch auf Deutsch; 60 Jahre später erschienen der Schreiberin nur noch die deutschen Texte notwendig.
Zwei weitere Handschriften in dieser Untergruppe gehören zum Umfeld des Katharinenklosters Nürnberg. Nr. 97.2.4. wurde 1483 für die reformierten Dominikanerinnen in Medlingen direkt von Nr. 97.2.2. abgeschrieben. Es waren Regel und Konstitutionen für Laienbrüder, Regel und Konstitutionen für Laienschwestern und Sant Dominicus Buß, eine Regel für Männer und Frauen des Bußordens (Ordo de poenitentia S. Dominici) (DeMaris [2015] S. 46–53). Vermutlich hat Johannes Meyer nicht nur die deutschen Laienversionen der Regel und der Konstitutionen, sondern auch die Übersetzung der Bußordensregel selbst verfasst (Wehrli-Johns [2008] S. 87). Auch die Miniaturen in Nr. 97.2.2. wurden in Nr. 97.2.4. vorsichtig kopiert, obwohl das in zwei weiteren Handschriften, die dieser Textüberlieferung fest zugehören, nicht der Fall war: weder Überlingen, Leopold-Sophien-Bibliothek, Ms. 5 noch Karlsruhe, Cod. K 1177 enthalten Miniaturen oder Leerräume für Miniaturen.