Schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat Simmler die Vielfalt der deutschen Benediktinerregel-Überlieferung beschrieben. Im Kontext seiner Erforschung zur ›Makrostruktur‹ der Regel gliederte er die Regeltexte in vier Großgruppen: 1) eine rein lateinische Tradition, 2) eine, die den lateinischen Text mit dem deutschen kombinierte, 3) eine, die einen vollständigen deutschen Regeltext mit einem Kommentar verband, 4) eine, die ausschließlich die deutschsprachige Regel überlieferte (Simmler [1988] S. 214). In einer späteren Untersuchung stellte er fest, dass die überwiegende Mehrzahl der deutschen Regeltexte (80 von 105) der vierten Großgruppe zugerechnet werden muss (Simmler [1989] S. 185). Er konnte weiter zeigen, dass die deutsche Regelüberlieferung einen Höhepunkt im 15. Jahrhundert in den bairischen und österreichischen Dialekten erreichte (S. 185–188). Diesen Höhepunkt verband er mit der benediktinischen Reformbewegung, die einen Anfang auf dem Konzil von Konstanz nahm und durch die Melker Klosterreform weiterentwickelt wurde. Zur Reformbewegung gehörte das Bedürfnis, denen, die des Lateins unkundig waren, den Regeltext verständlich zu machen.
Die illustrierten deutschsprachigen Regelhandschriften spiegeln Simmlers Befunde, indem die Mehrzahl – fünf der sieben Handschriften – den Regeltext eigenständig überliefern (die anderen zwei mit Kommentar), vier wurden in bairischer oder österreichischer Schreibsprache geschrieben, und vier wurden in Klöstern verfasst, die dem Melker Reformkreis zugehörten (zwei ostfränkische Handschriften entstanden in Klöstern, die sich der Bursfelder Kongregation angeschlossen hatten).
Zu Recht beruft sich Simmler (1989, S. 195) auf Hayer (1982, S. X), der den Zusammenhang zwischen der Anhäufung deutschsprachiger Regeltexte und dem Bedürfnis, im Kontext der Reform Nichtadelige, Laienbrüder und Nonnen in der Volkssprache unterrichten zu können, aufzeigt. Nur untersucht Simmler diesen Kontext nicht weiter. Es bleibt die Frage, inwiefern der deutschsprachige Regeltext umgeändert wurde, um weitere Bedürfnisse der Laienbrüder oder der Nonnen zu erfüllen. In drei der sieben bebilderten Regeltexte machte man Änderungen, die eben auf diese zwei Gruppen zielten. Nr. 97.1.1. fügte zwei Zusatzkapitel zum Regeltext hinzu, die sich ausschließlich mit der Aufnahme und Belehrung der Laienbrüder befassen. Nr. 97.1.3. und Nr. 97.1.5. sind Nonnenfassungen der Regel: nicht mehr Brüder, sondern Schwestern werden in dem Prolog angesprochen. (Eine viel spätere Hand hat den Text in Nr. 97.1.3. verbessert, indem das Wort Swestern durchgestrichen und durch prueder ersetzt wurde, aber zur Zeit der Reform muss man die Änderung als berechtigt und passend angesehen haben.) Es müsste auch gefragt werden, ob auch nichtbebilderte Handschriften eine ebenso hohe Prozentzahl solcher Änderungen im Regeltext aufweisen. Oder empfand man, dass das ›Bebildertsein‹ besonders zu solchen Änderungen gehörte? Eine weitere Untersuchung über laien- und nonnenbezogene Änderungen im Sinne von Simmlers Großgruppen dürfte die Antwort liefern.
Auffallend ist die hohe Anzahl vermutlich berufsmäßiger Künstler, die an der Bebilderung der Handschriften der Benediktinerregel teilnahmen. Abt Peter I. holte Künstler aus Prag, um in Zusammenarbeit mit ihnen und den Schreibern die Mettener Prachthandschrift (Nr. 97.1.4.) zu gestalten (Suckale [2012] S. 163–168). Miniaturen in allen drei Nonnberger Handschriften fertigte der Künstler Ulrich Schreier bzw. seine Werkstatt, auch wenn in Nr. 97.1.3. nur eine Initiale – und nicht die zwei großen, ebenso beeindruckenden Miniaturen – ihm zuzuschreiben ist. Und ein geübter fränkischer Künstler, wohl ein Nachfolger Hans Pleydenwurffs, malte die Miniatur in Nr. 97.1.1. Nur in der Ottobeurener Handschrift (Nr. 97.1.2.) lässt sich ein Zeichner erkennen, der wahrscheinlich unter den Mönchen zu suchen wäre. Die Wahl berufsmäßiger Künstler für die Illustration der benediktinischen Handschriften steht im starken Kontrast zur Ausmalung der Augustiner- und Klarissenregeln. Mit Ausnahme der Klosterneuburger Handschrift (Nr. 97.2.3.) begnügen sich die anderen Handschriftengestalter mit aufgeklebten Miniaturen aus anderer Quelle oder mit Malereien der eigenen, zum Teil sehr begabten Schwestern. Eine zweite Ausnahme wäre vielleicht Nr. 97.3.3., wobei nicht zu ermitteln war, ob die Miniaturen im Kloster entstanden sind oder nicht.
Ohne dass ein direkter Einfluss unter den Handschriften oder ihren Bildern nachzuweisen wäre, beinhaltet die Mehrzahl der Bilder das gleiche Motiv: Es ist der heilige Benedikt, Ordensgründer und Verfasser der Regel, der das Regelbuch an Nonnen und Mönche austeilt (Nr. 97.1.3., Nr. 97.1.5., Nr. 97.1.6., Nr. 97.1.7.). Obwohl anachronistisch – die Nonnen und Mönche, die die Regel gereicht bekommen, lebten etwa 800 Jahre nach Benedikts Tod – gewähren diese Handschriften eine unmittelbare Text-Bild-Leser-Beziehung. Nur die Mettener Prachthandschrift (Nr. 97.1.4.) weist ein ganz unterschiedliches Bildprogramm auf, indem 115 Episoden aus Gregors Benedikt-Vita dargestellt werden.
Petri/Crean (1977/78) geben eine Übersicht über die Gesamtüberlieferung der deutschen Benediktinerregeln, sowohl edierte (S. 153) als auch noch nicht edierte (S. 154) Handschriften.