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36. Heinrich Seuse, ›Das Exemplar‹

Bearbeitet von Jeffrey F. Hamburger

KdiH-Band 4/1

Heinrich Seuses ›Exemplar‹ ist vorgeblich eine autorisierte Sammlung der volkssprachlichen Werke seines Autors. Der Titel bezeichnet zugleich die Gesamtheit seiner Texte, deren Protagonisten und schließlich auch Christus, den Logos, in dem die Exemplare – die Urbilder – aller Dinge enthalten sind, die als Vorbilder nachgeahmt werden sollen. Die Illustrationen des Werks können dabei sowohl als Erläuterung wie auch als Darstellung dieses eng verknüpften Ideenkomplexes gesehen werden: Die Beziehung zwischen Vorbild und Nachahmung wird dadurch konzeptionell über Text und Bild hinaus auch auf Personen ausgedehnt, die diese im Zusammenhang der curia monialium schaffen und benutzen. Die Tätigkeiten des Schreibens, des Lesens, die Schöpfung von Bildern und die praktizierte Frömmigkeit werden, zumindest im Idealfall, als miteinander in Wechselwirkung stehende Aktivitäten bestimmt. In dieser Auffassung spiegelt sich die dominikanische Vorstellung von Klosterreform, für die das ›Exemplar‹ als ein Ausgangspunkt dient und zugleich einen der Hauptzeugen darstellt.

Das ›Exemplar‹ ist ein eklektisches, dabei aber singuläres Werk. Seuse zieht ein breites Spektrum von Traditionen und Gattungen heran, darunter hagiographische Texte, die ›Vitas patrum‹, Gerhards von Fracheto ›Vitas fratrum‹, Exempelliteratur, theologisches Schrifttum und höfische Literatur (wobei letzteres umstritten ist). Er schreibt mit bildgebender wise (Bihlmeyer S. 3,3). Dieser Ausdruck ist reich an semantischen Facetten: Er bezeichnet nicht nur Seuses Art, spezifische Punkte seiner Ausführungen durch konkrete Beispiele zu erläutern, sondern auch seinen Bildgebrauch, der sich über die Illustrationen hinaus auch auf die zahlreichen verbalen Bildbeschreibungen erstreckt, d. h. auf die Malerei in seiner Redekunst, die dem Text seine besondere Qualität verleiht. Als tatsächliche Illustrationen oder als verbale Beschreibungen in seine Erzählung eingebettet, stellen Seuses Bilder dem Leser Modelle zur Verfügung, die imitiert und reproduziert werden sollen. In dieser Hinsicht stehen die Illustrationen des ›Exemplars‹ trotz ihres singulären Charakters in einer längeren Tradition illustrierter didaktischer Traktate, die für Nonnen von ihren geistlichen Beratern verfaßt wurden; das berühmteste Beispiel ist das ›Speculum virginum‹. Wie dessen Illustrationen auch kombinieren diejenigen Seuses verschiedene Methoden, nicht nur narrative, sondern auch skizzenhafte, lehrhafte und allegorische; bei ihm tritt noch die visionäre hinzu. Einige Illustrationen veranschaulichen nicht einfach Visionen innerhalb der Erzählung, sondern vermitteln Visionen von Visionen oder Erscheinungen, die dem diener zuteil wurden. Auf diese Weise wird der selbstreferentielle Charakter des Gesamtwerks verstärkt, und es erhält die Funktion eines Kommentars nicht nur zu Bildern, sondern auch zu Vision und mystischer Erfahrung als solcher. Die Bilder sind keineswegs ein bloßer Zusatz zum Text, sondern wesentlicher Bestandteil seiner Zweckbestimmung und Eigenschaft als Kommentar zur Rolle der imitatio, der Bilder, der Vision und der körperlichen Existenz im geistlichen Leben.

Die nahe beieinander liegenden oder gar identischen Begriffe imago und bilde stellen ein breites semantisches Feld bereit. Von diesem Ausgangspunkt aus bieten das ›Exemplar‹ und insbesondere die ›Vita‹ einen der tragfähigsten und selbstkritischsten Kommentare zu Charakter und Rolle von Bildern in der gesamten mittelalterlichen Literatur. Dem entsprechend sollten die Illustrationen nicht als bloßer Zusatz zum Text, sondern als ihm an Bedeutung gleichrangig gewertet werden. Die Bilder reproduzieren nicht einfach den Text; sie bilden vielmehr einen Kommentar zu den Vorstellungen, die im Text entwickelt werden. Und dies schließt auch Ideen über die Funktion von Bildern – sowohl von vorgestellten als auch von konkreten – im Rahmen der imitatio Christi ein, wie sie von dominikanischen Nonnen praktiziert wurde. Die Bilder wenden sich durch ihre Präsenz an dieses Publikum, aber gerade auch durch sie wird Kritik an dem herausragenden Stellenwert von Bildern und von körperlicher Übung in der Frömmigkeitspraxis dieses Publikums geübt. Anstatt als Beschreibung frommer Askeseübungen sollte Seuses Text zum Teil als eine Antwort auf eine bereits bestehende Bildkultur verstanden werden. So dekonstruieren Bilder und Text konventionelle Vorstellungen von Ähnlichkeit und Wiedergabe und stellen stattdessen ein Mittel bereit, mit dem die Leserin, die in seine bildriche heilikeit (Bihlmeyer S. 155,16: »an Bildern reiche Heiligkeit«, aber auch: »reich illustriert«) eingeweiht wird, auf dem apophatischen Weg voranschreiten soll, auf dem sie, in Seuses berühmter Formulierung, »Bilder mit Bildern austreiben« kann (bild mit bilde us tribe, S. 191,9).

Durch die Illustration des ›Exemplars‹ werden Bilder nicht nur in gleicher Weise wie Texte als Vermittler des mystischen Aufstiegs legitimiert; durch sie werden auch Betrachtung und Wiedergabe von Bildern als Modell für den Vorgang der imitatio (Nachfolge) ausgewiesen, der zentral ist für die religiösen Praktiken, die das Werk beschreibt und anregt. Ein gutes Beispiel bietet eine modifizierte Bildwiedergabe in der Einsiedler Handschrift (Bihlmeyers Hs. K), die der Bildüberschrift zufolge ains wol zü nemenden menschen übigen dürbruch darstellt. In der Straßburger Handschrift ist auf diesem Bild in Übereinstimmung mit Bihlmeyer S. 49,6–9 die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind dargestellt, die dem diener einen Krug mit Wasser reicht, damit er seinen Durst stillen kann. Die Szene spielt auf einem offenen Feld ohne jeden Landschaftshintergrund oder ein architektonisches Detail mit Ausnahme eines kleinen Rasenstücks, das den Rahmen durchbricht und eindeutig erst nach der Zeichnung der Figuren hinzugefügt wurde. In der Einsiedler Handschrift hingegen sind die Figuren in einen Architekturrahmen gesetzt, der von Zinnen bekrönt und durch zwei schmale Fialen seitlich begrenzt wird. Maria sitzt nun nicht auf einem Thron, sondern auf einem Stuhl, der zugleich als Schreibpult fungiert. Das geöffnete Buch unmittelbar hinter ihr trägt die Aufschrift Maria gratia plena tecum. Zwei kleine Statuen in den seitlichen Fialen neben der Jungfrau bzw. neben dem diener – der Engel Gabriel links und Maria rechts – beziehen sich ebenfalls auf die Verkündigung. Die Haltung des dieners spiegelt die der Jungfrau in der Verkündigungsdarstellung wieder. Indem also das Bild den diener als Nachahmer Marias zeigt, deutet es ausdrücklich Kunstwerke als Vorbilder, die zur Nachahmung dienen sollen. Das gleiche könnte über das ›Exemplar‹ als Ganzes gesagt werden, und andere Bilder enthalten vergleichbare visuelle Strategien.

Das ›Exemplar‹ umfaßt vier Texte: die ›Vita‹ (für die der werkeigene Titel das da haisset der Suse [S. 7,1] passender sein dürfte), das ›Büchlein der ewigen Weisheit‹, das ›Büchlein der Wahrheit‹ und das ›Briefbüchlein‹. Mit einer Ausnahme (Bihlmeyer Nr. 12, das zum ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ gehört) illustrieren alle Bilder den ersten Teil der Kompilation, die ›Vita‹, eine Konzentration, die in Einklang mit ihrem erklärten Ziel steht, als programmatische Einführung in einen spirituellen Weg zu dienen. Einige Handschriften fügen diesen vier Werken eine Reihe kurzer ergänzender Texte hinzu, von Bihlmeyer als »Zusätze« bestimmt (sie fehlen in Straßburg, Ms. 2929), die ihrerseits einen Kommentar zu den Bildern des ›Exemplars‹ bilden. Angesichts des kühnen und offenbar außergewöhnlichen Charakters der ›Vita‹ als einer »Auto-Hagiographie« wurde ihre Echtheit oft in Frage gestellt, obwohl in den letzten Jahren die Tendenz vorherrschte, sie als selbstbewußte, erbauliche Fiktion zu betrachten. Dieser fiktionale Charakter erstreckt sich teilweise auch auf den Bericht über die Entstehung des ›Exemplars‹ selbst, d. h. auf die Zusammenarbeit mit der dominikanischen Nonne Elsbeth Stagel, die als Seuses geistliche Tochter auffällig in den Vordergrund tritt. Welche Rolle auch immer ihr bei der Materialzusammenstellung, die als Basis der Sammlung diente, zukam, im Text und in einigen Illustrationen tritt sie jedenfalls als ideale Leserin und Rezipientin in Erscheinung. Die gesamte Gestaltung – der Texte wie der Bilder – ist bemerkenswert, insofern dabei scheinbar der eigene Entstehungsprozeß nacherzählt und indem der Prozeß der eigenen Rezeption dargestellt und vorweggenommen wird – wie z. B. in der Illustration zu Kapitel 45 visualisiert.

In diesem Zusammenhang treten die Fragen der Authentizität und der Autorschaft zwingend in den Vordergrund. Es ist von entscheidender Bedeutung, wenn auch schwierig, zu bestimmen, ob die Bilder ein frühes Stadium der Textrezeption und Textbearbeitung darstellen oder ob sie bereits integraler Bestandteil der ursprünglichen Konzeption waren. Nach allgemeiner Auffassung und in Übereinstimmung mit dem eigenen Bericht des ›Exemplars‹ gehen die Illustrationen auf Ideen oder Entwürfe zurück, die von Seuse selbst stammen, womöglich auch von ihm gezeichnet wurden. Die früheste noch existierende Handschrift der gesamten Sammlung (Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms. 2929) kann jedoch nicht vor Seuses Tod 1366 angesetzt werden. Aufgrund stilistischer Vergleiche – der einzig verfügbaren Nachweise – kann das Manuskript, das höchstwahrscheinlich in Straßburg entstand, auf ca. 1370 datiert werden. Klare kodikologische Anzeichen verraten eine weitreichende Überarbeitung, darunter ausgedehnte Rasuren, mit denen teilweise beabsichtigt wurde, die Einfügung von Illustrationen zu ermöglichen. Altrock und Ziegeler (2001) haben daher vorgeschlagen, das Straßburger Ms. 2929 trotz seines Status als ältester greifbarer Textzeuge und als Grundlage von Bihlmeyers Ausgabe nicht als Repräsentanten des ursprünglichen Konzeptes von Text und Bild zu werten. Unabhängig von der Frage, ob die Bilder einen Zusatz zum ursprünglichen Textcorpus bilden, wird dieses Konzept ihrer Ansicht nach besser durch die Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. allem. 222, vertreten, wo alle Illustrationen beisammenstehen; diese Anordnung ist jedoch, verglichen mit allen anderen Manuskripten größeren Umfangs, atypisch, die, soweit erhalten, Varianten der Straßburger Konzeption erkennen lassen. Aus dieser Perspektive stellen die Bilder einen Zusatz und ein frühes Stadium der Rezeption (und der Umgestaltung) von Seuses Werk dar, aber auch eine Beschreibung seiner Autorschaft. Die Bilder verändern die Wahrnehmung des Textes insofern, als sie die Illusion einer Identität des Autors (Seuses) mit seinem Protagonisten (dem diener) schaffen.

Eine einläßlichere Diskussion der kodikologischen Daten des Straßburger Ms. 2929 findet sich unten (s. Nr. 36.0.4.). Hier sei nur festgehalten, daß in allen illustrierten Textzeugen des ›Exemplars‹ mit Ausnahme des Pariser dem Leser zuerst ein Bild gegenübertritt und erst danach der Prolog, indem Seuse sich auf Illustrationen, dú hier vor und na stand (S. 4,24 f.), bezieht – ein offenbar unzweideutiges Indiz dafür, daß die Plazierung der ersten Zeichnung vor dem Prolog Teil der originären Anordnung war (außer natürlich, wenn der Prolog selbst einen Zusatz darstellt oder verändert wurde, um ihn dem Zusatz oder der Neuordnung einer bildlichen Ergänzung anzupassen). Unter diesem Aspekt bleiben die kodikologischen Besonderheiten der Straßburger Handschrift zwar bedeutsam, aber sie zeigen nicht notwendig an, daß das Bildprogramm erst in dieser speziellen Handschrift hinzutrat, oder daß seine Bildanordnung eine radikale Änderung eines eventuell bereits zuvor existierenden Systems darstellt. Text und Bild müssen nicht notwendig gemeinsam oder hintereinander überliefert worden sein, aber es sei darauf hingewiesen, daß, wenn das Bildprogramm der Pariser Handschrift ms. allem. 222 als »authentisch« betrachtet werden soll, dies nicht auch für den Pariser Text gelten kann, da die ›Vita‹ stark gekürzt ist. Trotz dieser Vorbehalte muß akzeptiert werden, daß die Straßburger Handschrift (und damit alle folgenden Überlieferungszeugen außer Paris) zumindest eine Abwendung von dem Bildprogramm, das die Urform des ›Exemplars‹ enthielt – wie immer es beschaffen war –, markiert.

Veränderungen und Umstellungen in der Reihenfolge des Bilderzyklus in den verschiedenen Handschriften erschweren zusätzlich jede Erörterung dieser Fragen. (Bihlmeyers Numerierung der Bilder, die auf der Abfolge in der Straßburger Handschrift basiert, wurde aus Gründen der Übereinstimmung, Klarheit und Bequemlichkeit in den folgenden Beschreibungen beibehalten.) Die Varianten in der Struktur des Zyklus betreffen drei Bilder oder Bildgruppen, denen Bihlmeyer vier Nummern zugeordnet hatte: Abb. 4, 8/9 und 12. Im Ms. 2929 besteht Bihlmeyer Nr. 4, die Zeichnung, die Kapitel 22 der ›Vita‹ illustriert, aus zwei Szenen: Die erste, in der oberen Bildhälfte, stellt den diener dar, der von einem Engel eine Rosengirlande empfängt nach dem Modell Marias in der Annuntiation; die zweite, in der unteren Bildhälfte, wiederholt mit Bedacht die Struktur der ersten, wobei die Aufmerksamkeit Annas durch einen Engel, den sie in einer Vision sieht, auf das Ereignis gelenkt wird, das oben dargestellt ist. In den Handschriften Einsiedeln (47v/48r) und Wolfenbüttel (39r/39v) werden diese beiden aufeinander bezogenen Szenen getrennt und auf zwei Blätter verteilt. Das Ergebnis ist, daß in der Einsiedler Handschrift die Geste des Engels, die Annas Aufmerksamkeit nach oben lenkt, keinen Sinn mehr ergibt; die Szene, auf die er deutet, befindet sich nämlich auf der vorangehenden Versoseite (47v). Im Wolfenbütteler Manuskript paßt der Künstler seine Darstellung dem veränderten Format an: Der Engel (39v) führt Anna hier in Übereinstimmung mit der Erzählung nach vorne, er deutet jedoch zurück – sowohl auf sie als auch auf die Szene mit der Vision des dieners auf der vorangehenden Rectoseite (39r).

Aus diesen visuellen Deutungen und Mißdeutungen ergibt sich, daß die Szene mit Annas Vision, wie sie im Straßburger Manuskript dargestellt ist, nicht einfach als eine Verschmelzung von ursprünglich zwei separat gemalten Szenen interpretiert werden kann. Dieselbe Kombination taucht auch in der Pariser Handschrift (120r) auf – Altrock und Ziegeler zufolge also in der getreuesten Wiedergabe des ursprünglichen Arrangements. Darüber hinaus paßt die Straßburger Bildversion in ihrer inneren Struktur besser zur Struktur der Erzählung, auf die sie sich bezieht. Im Kapitel 22 wird die Vision des dieners in diejenige Annas eingebunden, und zwar mit Hilfe indirekter Rede: Und geschah ainest, do ward si verzuket, und ward zu ir gesprochen in der gesicht, daz si hin kemi, da der diener was, und in gesehi (S. 64,3 f.). Als Anna sich sorgt, den Diener unter all den anderen Brüdern nicht erkennen zu können, informiert sie der Engel, daß er so erscheinen werde, wie es Heilige auf Bildern tun, d. h. mit einem Heiligenschein um seinen Kopf: Und als der guldin sinwel ring, den man den heiligen umb daz hobt pfliget ze malene, als der bezeichent ir ewigen selikeit, dú sú iez besessen hein got, also bezeichent der roͤselohte ring menigvaltikeit dez lidens, daz die lieben gotesfrúnde muͤssent tragen, etc. (S. 64,11–15). Text und Bild beziehen sich sowohl inhaltlich als auch ihrer inneren Struktur nach wechselseitig und einander verstärkend aufeinander, was der Leserin erlaubt, an dem Gesamtbild mitzuwirken und darauf zu reagieren, so, als ob ihr Lesen und Betrachten sogar noch eine dritte Stufe der Vision darstelle, die die beiden anderen umschließt. Der Text bestimmt das Bild (und das Bild bestimmt sich selbst) als eine Erweiterung von Annas Vision. Wenn dieses Bild tatsächlich eine Abwendung vom ursprünglichen Schema verkörpern sollte, so bezeugt es jedenfalls ein außergewöhnlich verfeinertes und aufmerksames Verständnis des Textes und seiner rhetorischen Strategien.

Vergleichbare Konstellationen finden sich bei anderen Bildern, deren Reihenfolge und Anordnung in den vorhandenen Manuskripten variieren. Bihlmeyer Nr. 8 und 9 stehen in der Straßburger Handschrift auf einem Blatt (67r) als ein Bild, das Vorstellungen zusammenführt, die zum Teil (allerdings nur ungenau) von Kapitel 36 (obere Bildhälfte) und (genauer) von Kapitel 20 (untere Bildhälfte) abgeleitet sind. Eine abgeschabte Notiz am unteren Seitenrand gibt an, ob zutreffend oder nicht: du óbren bild horend her ab. Wenn man die doppelte Szene jedoch als Aufblicken des Dieners vom Leidensweg der geistlichen Ritterschaft hin zur künftigen himmlischen Belohnung versteht, wird der Sinn der Bildstruktur sowohl visuell als auch narrativ erkennbar. Die Notiz hat demnach keinerlei autoritativen Rang; sie dürfte einfach die falsche Erwartung eines Lesers ausdrücken, daß die Bilder in irgendeiner Weise den Text und seine Abfolge wiederspiegeln sollten. Doch sind sie eher als unabhängige bildhafte Ergänzung oder Kommentar aufzufassen.

In einigen der späteren Handschriften (Einsiedeln, Paris, Wolfenbüttel) sind die Bild-Nummern Bihlmeyer 8 und 9 über zwei aufeinanderfolgende Blätter verteilt, ohne sie allerdings in ihre »korrekte« Reihenfolge zu bringen, geschweige denn sie gegenüber ihren textlichen »Quellen« in die richtige Position zu setzen. Eine ähnliche Abtrennung erfährt Nr. 12. Einsiedeln und Wolfenbüttel, nicht jedoch die Pariser Handschrift, behandeln die beiden Szenen, wie sie im Straßburger Manuskript (109v) zu finden sind, wiederum separat. Während die beiden Szenen in der Einsiedler Handschrift auf zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Blättern (129v/130r) dargestellt sind, werden sie in Wolfenbüttel gänzlich getrennt, indem dort die eine (62r) vor Kapitel 20, die zweite (157v) vor Kapitel 14 des ›Büchlein der Ewigen Weisheit‹ plaziert wird. Diese Variationen können entweder als bewußte Abwendung von einer vorgegebenen Abfolge oder als Versuch interpretiert werden, einen narrativen Zusammenhang und eine narrative Logik »wiederherzustellen«, die möglicherweise nie existiert hat.

Eine weitere Abweichung der Pariser Handschrift besteht bei der Illustration des von Tod und Teufel bedrohten weltlichen Liebespaares, die in allen anderen Manuskripten einen integralen Teil der Darstellung des mystischen Weges (Bihlmeyer Nr. 11) bildet. Im Paris steht sie am Ende der Abbildungsfolge, wodurch sie von Bihlmeyer Nr. 11 durch Nr. 12 getrennt wird. Wenn Paris tatsächlich die originale Anordnung wiedergibt, hätten alle anderen Manuskripte eine Alternative gewählt, bei der die ursprünglich unabhängige Szene in die Ikonographie des mystischen Weges eingebettet wurde. Für Gesamtstruktur und Inhalt des Zyklus scheint es kaum sinnvoll, eine Szene an den Schluß zu setzen, in der die Seele der welt minne, dú nimt mit jamer ein ende, erliegt. Die Entscheidung des Illustrators der Pariser Handschrift – wenn es sich um eine solche handelt –, die Szene mit Tod und Teufel abzutrennen und als zwölfte, abschließende Szene zu gestalten, könnte aus dem Bedürfnis entstanden sein, ein Sexternio auszugliedern und mit einer zwölften Szene auf seiner letzten Versoseite zu komplettieren. Die Gruppe der Bildszenen (118r–122v) verbindet in Paris zwei aufeinanderfolgende Sexternionen (110–122 und 123–134). Man kann vermuten, daß die unfertige Pariser Handschrift aus einer anderen kopiert wurde, in der die Illustrationen tatsächlich eine separate, eingefügte Einheit bildeten.

Andere Veränderungen der Text-Bild-Beziehungen kennzeichnen ›Exemplar‹-Handschriften zu allen Zeiten. Generell kann man eine Bewegung von einem malerischen Umgang mit Schrift (wie z. B. in der bildlichen Gestaltung der IHS-Monogramme, die in den frühen Manuskripten auffällig hervorgehoben sind), bei dem die Bilder zahlreiche frei schwebende Inschriften enthalten, hin zu einer stärkeren Trennung von Text und Bild beobachten. Dabei werden Monogramme nicht mehr vom umgebenden Text unterschieden und Inschriften zunehmend begradigt, indem sie in das vertikale und horizontale Raster, das durch die Linierung des restlichen Texts gegeben ist, eingepaßt werden. Unter den Handschriften, für die Illustrationen geplant waren, bietet Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB I 15 (s. unten Nr. 36.0.5.) das extremste Beispiel dieser Tendenz: Die Bilder wurden nie in dem für sie vorgesehenen Raum ausgeführt, und in einigen Fällen wurden nur die Inschriften innerhalb des Textblocks eingefügt, nicht etwa in einem Raum, der sonst für ein Bild benutzt worden wäre. In der Reduktion noch radikaler ist Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 2° 281, wo die Bildüberschriften ausgeführt sind, ohne daß die Illustrationen auch nur eingeplant worden wären. Man kann die Ursache für diesen Trend weg vom Bildhaften hin zum Text einfach in äußeren Umständen suchen, in der Abhängigkeit vom Interesse an Bildern oder auch von der Möglichkeit, sie zu finanzieren. In manchen Fällen könnte man ihn aber auch als bewußte Absicht deuten, die bildliche Dimension des ›Exemplars‹ abzuschwächen oder völlig zu unterdrücken, was ganz im Sinne der dominikanischen Reformbewegung gewesen wäre, die Visionen und Bildern der mystischen Frömmigkeit mit Mißtrauen begegnete. Jedoch auch die beiden Drucke von 1482 (Nr. 36.0.a.) und 1512 (Nr. 36.0.b.) tradieren das für die Handschriften entwickelte Illustrationsmodell weiter.

Bildthementabelle

Bildthema

36.0.1. 36.0.2. 36.0.3. 36.0.4. 36.0.5. 36.0.6. 36.0.7. 36.0.a. 36.0.b.

Nr. 1: Der diener und die Ewige Weisheit mit David, Salomo, Ijob und Aristoteles

87v 22v 118v 1v [1v] 4v 1v 5v A2v

Nr. 2: Die Seele des dieners im Arm der Ewigen Weisheit auf dem Schoß des Dieners, ein Engel

95v 28v 119r 8v [17v] 14r 9v 14v B1r

Nr. 3: Maria und das Jesuskind tränken den diener

110r 42r 119v 22r [45v] 31v 27r 31r C6v

Nr. 4: Seuse im Kreise seiner Brüder/Anna und der Engel

116r 47v/48r 120r 28v [57r] 39r/39v 35v 38v/39r D6r/E2r

Nr. 5: Seuse durch Verleumdung der Menschen von bösen Geistern gepeinigt

147v 77v 120v 57r [116v] 80v 75r 59v I1r

Nr. 6: Der diener vor Maria mit dem Jesuskind, von einem Engel geführt

152v 82v 121r 62r [127r] 88r 82r 81v I5v

Nr. 7: Der diener kniet vor dem Gekreuzigten in Seraphim-Gestalt

156r 86r 121v 65v [134r] 93r 87r 75r K2v

Nr. 8: Der diener empfängt von Engeln himmlische Tröstung

158r o 87v 122r 67r o [137r] 95r 89v o 87r K3v

Nr. 9: Der diener wird mit den Ritterinsignien belehnt

158r u 88r 122v 67r u [139r] 95v 89v u 87v K4r

Nr. 10: Der diener, seine geistliche Tochter und weitere Verehrer des Namens Jesu unter dem Schutzmantel der Ewigen Weisheit

159v 89r 123r 68v [176r] 97r 91r 89r K5r

Nr. 11: Der mystische Weg

173v 106r 123v 82r 122v 112r 108v N1r

Nr. 12: Der diener vor dem Gekreuzigten und dem Jesuskind/Der diener zwischen dem gegeißelten Jesus und einem Engel

203r 129v/130r 24r/124v 109v 62r/157v 210r 85v/29*r G2v/Q2v
Editionen:

Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907. Nachdruck Frankfurt 1961.

Literatur zu den Illustrationen:

Martin Kersting: Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu den illustrierten Handschriften des Exemplars. Inaugural-Dissertation Johannes Gutenberg Universität Mainz. Mainz 1987; Jeffrey Hamburger: The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns. The Case of Heinrich Suso and the Dominicans. Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46; Jeffrey Hamburger: Medieval Self-Fashioning. Autorship, Authority, and Autobiography in Seuse’s Exemplar. In: Christ among the Medieval Dominicans. Representations of Christ in the Texts and Images of the Order of the Preachers. Hrsg. von Kent Emery, Jr./Joseph Wawrykow. Notre Dame 1988 (Notre Dame Conferences in Medieval Studies VIII), S. 430–461; Niklaus Largier: Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer Seuse-Handschrift des 15. Jahrhunderts. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel. Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 241–271; Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses ›Exemplar‹. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien: Berichtsbände XXII), S. 150–181; Stephanie Altrock: »… got wil, daz du nu riter siest.« Geistliche und weltliche Ritterschaft in Text und Bild der ›Vita‹ Heinrich Seuses. In: Höfische Literatur und Klerikerkultur. Wissen – Bildung – Gesellschaft. Xth Triennal Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur (ICLS) vom 28. Juli bis 3. August 2001. Hrsg. von Andrea Sieber. Berlin 2002, S. 107–122.