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105. Irmhart Öser, ›Rabbi Samuel‹

Bearbeitet von Sarah Glenn DeMaris

KdiH-Band 10

Irmhart Ösers ›Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak‹ ist eine Übersetzung der lateinischen ›Epistula Samuelis‹ des spanischen Dominikaners Alfonsus Bonihominis, der wiederum den Text aus dem Arabischen übersetzt haben soll. Der arabische Text und sein angeblicher Verfasser – Rabbi Samuel von Fez – sind allerdings fiktiv. Die lateinische und die deutsche Überlieferung des Textes wurden beide zu Bestsellern des 15. Jahrhunderts (Limor [1996] S. 177): über 250 lateinische und 60 deutsche Handschriften sind bislang bekannt.

Laut Bonihominis entstand der Text im späten 11. Jahrhundert, als Rabbi Samuel einen Brief (manchmal tractatus, in deutscher Übertragung auch puch) mit seinen Fragen und Beobachtungen über das Schicksal der Juden an Rabbi Isaak von Siyilmasa (Sidschilmasa, Marokko) schickte. Samuel, der am Ende des Textes als Katechumene enthüllt wird, vergleicht die zwei Gefangenschaften der Juden – 70 Jahre im babylonischen Exil nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels und mehr als 1000 Jahre seit Titus’ Zerstörung des Herodianischen Tempels – und stellt fest, dass die zweite und damals aktuelle Gefangenschaft eine viel härtere Bestrafung sei (Kapitel 1–6). Nachdem Samuel die Voraussagen der Propheten über den kommenden Messias auflistet und zitiert, kommt er zur Schlussfolgerung, dass diesmal Gott die Juden endgültig verlassen habe, weil sie den Messias – trotz Prophezeiung – nicht erkannten (Kapitel 7–12). In der zweiten Hälfte des Textes beschreibt Samuel das neue Zeitalter, in dem der Alte Bund durch den Neuen ersetzt wird (Kapitel 13–25).

Über das Leben des Alfonsus Bonihominis ist wenig bekannt. Er wurde am 5.1.1344 von Clemens VI. zum Bischof von Marokko ernannt und starb wahrscheinlich kurz vor dem 12.8.1353, als sein Nachfolger ernannt wurde. Aussagen am Anfang und am Ende seiner Werke berichten von Aufenthalten sowohl in Nordafrika (Marrakesch und Kairo) als auch im Mittelmeerraum (Zypern) und in Europa (Paris), wo er 1339 die ›Epistula Samuelis‹ schrieb (siehe Biosca Bas [2020] S. XI–XVII zu Bonihominis’ Leben und Werken).

Auch zu Irmhart Öser existieren wenige Urkunden. Wahrscheinlich um 1310–1320 in Augsburg geboren, verbrachte Öser den Großteil seines Lebens in der Nähe von Graz, wo er ab 1340 wohl bis zu seinem Tod (frühestens 1380) eine Pfarrstelle in Straßgang bekleidete. Bis 1358 muss er eine kanonistische Ausbildung abgeschlossen haben, denn er nennt sich in diesem Jahr professor in iuris Canonici. Auch 1358 wurde er Kanoniker an der Domkirche in Augsburg und Archidiakon in der Untersteiermark (siehe Keller [1992] S. 151–156 zu Ösers Leben).

Keller (1992, S. 154f.) setzt die deutsche Übertragung der ›Epistula Samuelis‹ in die 60er bzw. 70er Jahre des 14. Jahrhunderts, als Ösers Verantwortung für die Pfarrer der Grazer Umgebung und der Untersteiermark wuchs. Pastoralinstruktion und nicht institutionalisierte Disputation mit den Juden oder Integration des deutschen Textes in den Lehrbetrieb an der Hochschule – was der lateinische Überlieferungsvorgang andeutet – wäre somit der Anlass für die deutsche Übertragung, deren Verbreitung unter Laien der Stärkung des christlichen Glaubens dienen sollte (Limor [1996] S. 193, Niesner [2005] S. 406). Die Mitüberlieferung der lateinischen und deutschen Texte zeigt einen ähnlichen Kontrast: Mit der lateinischen ›Epistula‹ wurden oft adversus-iudaeos-Texte überliefert (Keller [1992] S. 144–148, Niesner [2005] S. 393), mit der deutschen Übertragung häufiger populäre Texte wie beispielsweise der ›Lucidarius‹ (Nr. 105.0.4.), Historienbibeln (Nr. 105.0.2. und Nr. 105.0.5.) oder Heiligenlegenden.

Der überwiegende Teil der 60 deutschen Handschriften, die den ›Rabbi Samuel‹ enthalten, entstand im oberdeutschen Sprachraum (auch fünf der sechs bebilderten Handschriften), sechs im mitteldeutschen (darunter Nr. 105.0.3.) und drei im norddeutschen Sprachraum. Ein Stemma der Handschriften (Marsmann [1971] S. 66) zeigt keine direkte Verwandtschaft unter den sechs bebilderten Handschriften, was durch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Darstellungen bestätigt wird. Vielmehr zeigen alle sechs ein selbstständiges und selbstbewusstes Text-Bild-Programm.

Ähnlich sind nur Nr. 105.0.2. und Nr. 105.0.5. In beiden Handschriften steht das einzige Bild zum Text – es ist Rabbi Samuel mit einem Buch – an dessen Anfang und somit an der Schnittstelle zwischen dem vorangehenden Text – in beiden Fällen einer reichbebilderten Historienbibel – und dem ›Rabbi Samuel‹. An dieser Schnittstelle befinden sich jeweils einige Sätze, die zusammen mit dem Bildnis des Rabbiners den Sinn des Übergangs klar machen: Der Katechumene überbrückt die Kluft zwischen dem Alten Bund (den überwiegend alttestamentlichen Büchern der Historienbibel) und dem Neuen Bund (Samuels bevorstehender Bekehrung). Die hinzugefügten Sätze an dieser Schnittstelle in Nr. 105.0.2. (vnd die juden die mainend sie [so]llend noch von got er[lost] werden [100ava] und Dise nachgeschribnen sachen solt du flÿßlichen über lesen So vindest du das die juden So zwÿfenlichen lebend [100avb]) zeigen – wie auch der ›Rabbi Samuel‹-Text selbst – die Beschäftigung mit der fehlgeschlagenen Erlösung der Juden. Die Zusätze in Nr. 105.0.5. machen den Sinn des Übergangs noch deutlicher: Also hat ein endt dy wibel dy alt ee vnd ein tail der newen Ee … Vnd nü hernach uolgt ein gelerter vnd weiser maister in der judischait genant der Samuel vnd pewert cristlichen gelauben (147va).

Eine ähnliche Schnittstelle befindet sich in Nr. 105.0.4., auch wenn das überbrückende Bild nicht Rabbi Samuel zeigt. Durch die Darstellung einer Gesprächssituation (Mose im Gespräch mit einem jungen Juden) versucht der Schreiber und Zeichner, den vorangehenden ›Lucidarius‹ (meister im Gespräch mit einem iungen) und den ›Rabbi Samuel‹ (Monolog Samuels mit Frage-Antwort-Struktur) als Texteinheit zu interpretieren (Ulmschneider [2011] S. 241). Warum hier ausgerechnet Mose, der weder im ›Lucidarius‹ noch im ›Rabbi Samuel‹ als Gesprächspartner auftritt, dargestellt wird, wird durch den Inhalt der zwei Texte schließlich klar: Mose steht stellvertretend für den abklingenden Alten Bund, der junge Jude für den Neuen. Dieses Thema ist zentral für den ›Rabbi Samuel‹, aber auch im ›Lucidarius‹ spielt es eine Rolle. Interessanterweise schließt der ›Lucidarius‹ in dieser Handschrift (und von den 80 ›Lucidarius‹-Handschriften nur in dieser) genau an der Stelle, wo die mögliche Rettung aller Menschen, also auch der Juden, behandelt wird (II.93; Gottschall/Steer [1994] S. 118). Der Abschluss an dieser Stelle, die durch das folgende Bild noch stärker betont wird, könnte auf eine bewusste Entscheidung des Schreibers hindeuten.

Im Gegensatz zu diesen drei Beispielen machen die Titelbilder zu Nr. 105.0.1. und Nr. 105.0.6. keinen Versuch, den ›Rabbi Samuel‹ mit dem vorangehenden Text zu verbinden. Wohl aber dachte der anonyme Maler von Nr. 105.0.1. an die Gesamtheit der Handschrift, indem er allen vier Haupttexten ein Titelbild verlieh. Der handlungsarme ›Rabbi Samuel‹ bietet allerdings wenig darstellbaren Inhalt, und deshalb erfindet der Maler eine Szene, die höchstens impliziert ist: zwei Rabbiner im Gespräch. Wie auch in Nr. 105.0.4. wird Samuels brieflicher Monolog zu einem darstellbaren, wenn auch fiktiven, Gespräch zwischen Rabbi Samuel und dem Briefempfänger Rabbi Isaak. Der Maler von Nr. 105.0.6. sucht ähnlicherweise eine darstellbare Handlung und findet sie in der Überschrift zum ersten Kapitel des Textes: Hie sendet der iunger das puch seinem maister (134r). Das schwungvolle Titelbild zeigt den Moment, als der Bote Rabbi Isaak den versiegelten Brief übergibt. Ausnahmsweise erscheint Rabbi Samuel nicht in der Darstellung.

Dircs van Delft ›Tafel van den kersten ghelove‹, eine Textkompilation katechetischen Inhalts, enthält in der deutschen Bearbeitung als 59. Kapitel eine verkürzte Version des ›Rabbi Samuel‹-Textes (siehe Nr. 67.5.). Die einzige historisierte Initiale zum Kapitel zeigt die zwei Rabbiner im Gespräch (das gleiche Bildthema wie in Nr. 105.0.1.). In Nr. 67.5.2. halten die sitzenden Rabbiner je eine ausgerollte Schriftrolle, der ältere der zwei mit Feder, Bart und Brille.

Nr. 105.0.3. unterscheidet sich bedeutend von allen anderen bebilderten ›Rabbi Samuel‹-Texten, indem 101 Bilder die 57 Blätter des Textes zieren. Wie in Nr. 105.0.1. und Nr. 105.0.4. wird das Rabbinerpaar dargestellt, hier aber 24 Mal durch den ganzen Text wiederholt. Die weiteren 77 Bilder zeigen alttestamentliche Figuren, deren Voraussagen Samuel zitiert. In vielen Fällen deuten die Figuren auf die jeweiligen Zitate, wodurch eine enge und räumliche Text-Bild-Beziehung entsteht.

Editionen:

Lateinischer Text: Biosca Bas (2020) S. 69–120. Deutscher Text: Marsmann (1971) S. 201–438 (mit synoptischer diplomatischer Ausgabe des lateinischen Textes aus Clm 26759).

Siehe auch:
  • Nr. 44.4. ›Streitgespräch zwischen Christ und Jude‹
  • Nr. 81. Lucidarius