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96a. Nonnenandacht

Bearbeitet von Sarah Glenn DeMaris

KdiH-Band 9

Die zwei Handschriften der Stoffgruppe Nonnenandacht weisen trotz unterschiedlichem Inhalt und auch Entstehungsort – eine kommt aus dem oberrheinischen Dominikanerinnenkloster Unterlinden (Nr. 96a.0.1.), eine aus dem norddeutschen Augustiner-Chorfrauenstift Steterburg (Nr. 96a.0.2.) – Ähnlichkeiten auf, die eine Zusammenstellung in dieser Stoffgruppe begründen. Hergestellt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in religiösen Frauengemeinschaften, dienten die zwei kleinformatigen Pergament-Handschriften wohl als persönliche Andachtsbücher der Klosterfrauen. Die Marienverehrung – Maria als Mutter des Jesuskindes und nicht als mater dolorosa oder pietà – ist der zentrale Inhalt der beiden Andachtsbücher.

Der ›Liber miraculorum‹ (Nr. 96a.0.1.), ein lateinisch-deutscher Mischtext, erzählt von einem Altarbild des Colmarer Unterlinden-Klosters, das eine Reihe von Wundern verursachte. Der Text beschreibt nicht nur die Mirakel, sondern auch die Herstellung des Altarbildes als Kopie von Lukas’ Bild der Jungfrau Maria mit Kind (siehe Bacci [2019] S. 63f., zu dieser Handschrift S. 70), die Ankunft des Altarbildes im Kloster als Geschenk eines Dominikanerprovinzials und die Gnaden (auch als Ablässe), die wegen des Altarbildes erteilt wurden (siehe Auf der Maur-Janser [2010] S. 232–235 für eine ausführliche Beschreibung der Handlung). Die unbebilderten Mariengebete, die dem Text folgen, gehören unmittelbar zum Text, nicht nur inhaltlich (Maria als Thema), sondern auch paläografisch. Neben Nr. 96a.0.1. ist der ›Liber miraculorum‹ noch in einer weiteren Handschrift überliefert, und zwar in einer längeren unbebilderten Version und nur auf Deutsch (Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 164.1 Extrav., 126r–131r). Dort bildet der Text den dritten von drei Teilen des Unterlindener Hausbuches, dessen zweiter Teil eine deutsche Übersetzung der ›Vitae sororum‹ von Priorin Katharina von Gueberschwihr ist (siehe Geith [1984] S. 28 zur Gliederung des Unterlindener Hausbuches). Da diese Übersetzung von der Colmarer Schwester Elisabeth Kempf († 1485) stammt, liegt es nahe, dass sie auch für die deutsche Übersetzung des ›Liber miraculorum‹ in beiden Handschriften verantwortlich ist. Möglicherweise ist Elisabeth Kempf auch an der Erstellung der Colmarer Handschrift (Nr. 96a.0.1.) beteiligt. Dabei ist sie wohl weniger als Verfasserin des lateinischen Textes zu denken, da die beschriebenen Ereignisse auf die Gründerjahre des Klosters zurückgehen; eher war Katharina von Gueberschwihr die Verfasserin.

Zwei eingeklebte Bilder am Anfang und am Ende von Nr. 96a.0.1. weisen einen klaren Textbezug auf. Der Metallschnitt der Jungfrau mit Kind (verso des Vorsatzblattes) steht stellvertretend für das Altarbild, das – als Mittelpunkt der Handlung – in fast allen nachfolgenden Federzeichnungen vorkommt. Weil die jüngere Forschung, auch Schmidt (2003, S. 102f., 336), den Ursprung des Metallschnittes im bayerisch-österreichischen Raum sieht (dagegen am Oberrhein verorten ihn früher Schreiber [1926] S. 36f. und Schreiber, Handbuch [1928] Bd. 5, S. 113, Nr. 2487), ist er wohl nicht als einheimische Nachbildung des Altarbildes zu verstehen, sondern als zufälliges Bild, das als Titelbild der Handschrift an das Altarbild erinnern sollte. Das Holzschnitt-Fragment auf der Rectoseite des Nachsatzblattes sollte auf ähnliche Weise zur Erinnerung dienen, und zwar an die im Text nicht beschriebene Weihe des Altarbildes, eine Auslassung, die wohl als Mangel empfunden wurde. Um dieses Fehlen auszubessern, wandelte eine Bearbeiterin (wohl eine Klosterfrau) einen vielleicht schon vorhandenen Holzschnitt in eine Darstellung der Weihe um. Ursprünglich zeigte der Holzschnitt die Weihe der Kapelle zu Einsiedeln, aber nachdem der fragmentierte Holzschnitt an das Nachsatzblatt angeklebt wurde, wurde die fehlende linke Seite mit einigen Federstrichen von der Kapelle zum Altar umgewandelt (Hamburger [1998b] S. 290f. und Schmidt [2003] S. 336f.). Möglicherweise wurde der Holzschnitt eigens zu diesem Zweck entzweigeschnitten.

Der zweite hier zu besprechende Fall, ein singulär überlieferter Text mit zahlreichen Reimspuren, wenn auch nicht konsequent gereimt, trägt in der Handschrift (Nr. 96a.0.2.) keinen Titel. Geeignet ist weder der Titel ›Gebete in Bezug auf die Geburt Christi‹ (von Heinemann 3 [1888] S. 65) noch ›Grüße an das Christkind‹ (Bilder lesen [2015] S. 55), da Gebete erst nach dem Text vorkommen und weil die Ich-Erzählerin (de ynnighe sele, 28v im Spruchband) nicht nur das Jesuskind, sondern auch Maria anredet, und zwar nicht nur mit Grüßen, sondern auch mit Bitten und Lobpreis. Hier wird daher der Titel ›Begegnung der innigen Seele mit Maria und dem Jesuskind‹ vorgeschlagen. Nachdem die Seele das nackte, neugeborene Jesuskind für seine Menschwerdung lobt, wendet sie sich an Maria, die ihr erlaubt, das Kind zu halten. Die Seele nimmt das Kind in die Arme, liebkost und küsst es, wickelt es ein und legt es schließlich in die Krippe, die ganze Zeit weiter mit ihm redend. Am Ende des Textes findet sich die Seele damit ab, dass Maria – und nicht sie – sich um das Kind weiter kümmern muss, und regt Maria an, das Kind zu stillen, zu wickeln und für es zu kochen.

Ein vergleichbarer physischer Umgang mit dem Jesuskind findet sich in Nr. 96a.0.1. nicht, wohl aber in den oben erwähnten ›Vitae sororum‹, die in der Wolfenbütteler Handschrift zusammen mit dem ›Liber miraculorum‹ überliefert werden. Dort berichtet Katharina von Gueberschwihr von mehreren Schwestern, die das Erscheinen des Jesuskindes erleben. Elisabeth von Rufach durfte sogar eine ganze Nacht mit ihm verbringen: Es saß auf ihrem Krankenbett, streichelte ihr die Lippen und das Gesicht mit seinen zarten Händen und unterhielt sie durch sein lustiges Hin- und Herlaufen (Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 164.1 Extrav., 67v). Schwestern in beiden Häusern, ob Stift oder Kloster, erlebten das Jesuskind physisch und interaktiv.

In beiden hier untersuchten Handschriften wird die Handlung über die Bilder lebhaft und konkret dargestellt, auch wenn es um geheimnisvolle Begriffe oder Begegnungen geht. Die innige Seele lobt Maria, die durch das Kochen für das Jesuskind spiset alle creaturen (Nr. 96a.0.2., 33r). Diese erhabene Metapher wird in der Bebilderung auf den wörtlichen Sinn reduziert, denn Maria beim Kochen ähnelt eher einer überarbeiteten Hausfrau als der Ernährerin der Menschheit: Mit einer Hand rührt sie den Brei über offenem Feuer, im linken Arm das gewickelte Kind, der Blasebalg vor ihr auf dem Boden. Auf ähnliche Weise wird das geistige Gesicht einer Colmarer Klosterfrau nur physisch dargestellt, während die geistige Deutung verloren geht. Zwei Ströme Öl, die von den Händen zweier schwebender Figuren fließen, werden von einer Stimme als goͤtliche gnade das wirt gegeben allen den die herkumen (Nr. 96a.0.1., 24v) erklärt. Im Bild tritt diese metaphorische Bedeutung hinter die konkrete zurück: Das Öl wird sorgfältig in einem großen Fass vor dem Altarbild aufgefangen, während eine Klosterfrau ein weiteres kleineres Fass bereithält (23ro).

Ähnlich ist in den zwei Handschriften zudem die aktive Beteiligung der dargestellten Klosterschwestern an der jeweiligen Handlung. Ohne Ausnahme wird in jedem Bild mindestens eine Schwester (die innige Seele in Nr. 96a.0.2.) gezeigt, und zwar als aktive Teilnehmerin am Geschehen. In einer Vision über die zukünftige Weihe des Colmarer Altars zeigen acht Schwestern demonstrativ auf das Basler Münster; dadurch machen sie deutlich, dass ihr Altar und das Münster einen gemeinsamen Weihtag feiern sollten (Nr. 96a.0.1., 17ro). In einem weiteren Bild (26ru) steht eine Schwester – quasi als Mittlerin – zwischen dem Altarbild und drei Pilgern, die Geschenke vor sich halten. Die Darstellung aktiver Schwestern, die den Tag der Altarweihe bestimmen und eine Art Treuhänderpflicht den Pilgern gegenüber ausüben, unterstützt Hamburgers Behauptung (1998b, S. 314), Nr. 96a.0.1. sei ein möglicher Versuch der Schwestern, ihre Ansprüche auf den Altar und die dazugehörenden Ablässe zu festigen. In Nr. 96a.0.2. spielt die innige Seele eine ähnlich aktive Rolle, sowohl im Text (ein durchgehender Monolog der Seele), als auch in den Bildern, wo sie beinahe die Handlung anleitet. Sie bittet um (und bekommt) das Jesuskind in die Arme und darf es liebkosen und wickeln, bevor sie das Kind seiner Mutter zurückgibt. Die Seele – und nicht Josef, der erst am Ende der Bilderreihe erscheint – steht Maria als Partnerin und Helferin zur Seite.

Eine dritte Gemeinsamkeit in den zwei Handschriften gibt Auskunft über Latinität und Ablasspraxis im Steterburger Stift und im Kloster Unterlinden. Ein Mariengebet, das erste von drei Gebeten, die dem Text und der Bilderreihe in Nr. 96a.0.2. folgen, wird zuerst auf Latein, dann auf Deutsch (Nu to dude) wiedergegeben (34r-v), und zwar – der Schreiberin nach – weil die Schwestern das Gebet täglich in beiden Sprachen beteten: we dut vor ghescreuen beth alle daghe lest to latine iste to dude. Sie erklärt weiter, dass das Beten immer vor dem Marienbild stattfinde und dass ein Papst dafür Ablässe erteilt habe: vor vnser leuen vrauwen belde […] vertich daghe afflates vnde twe karenen (34v). Nr. 96a.0.1. informiert auf ähnliche Weise: Der ›Liber miraculorum‹ wird abwechselnd auf Latein und Deutsch wiedergegeben, was auch des Lateinischen unkundigen Schwestern ermöglichte, das Buch zu lesen. Die sieben nachfolgenden Mariengebete werden jedoch nur auf Deutsch wiedergegeben, wohl weil diese Gebete privat und vor dem Marienbild – wie auch das Mariengebet des Steterburger Stiftes – ausgerichtet wurden. Und wie im Steterburger Stift werden Ablässe mit der Marienverehrung in Verbindung gebracht: Ablässe für alle, die sin zarte muͦter an diser stat sint loben vnd eren (Nr. 96a.0.1., 22r), werden nicht nur im ›Liber miraculorum‹ angekündigt, sondern auch ein zweites Mal nach den Mariengebeten aufgelistet. (Siehe Hamburger [1998b] S. 285–290 für Angaben über die Ablässe.)

Editionen:

Nr. 96a.0.1.: Ingold (1897) S. 101–116; Auf der Maur-Janser (2010) S. 239–265. – Nr. 96a.0.2.: Kruse (2016) S. 395–403.

Siehe auch:

Nr. 25. ›Christus und die minnende Seele‹

Nr. 43. Gebetbücher

Nr. 93.8. Schwesternbücher