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25. ›Christus und die minnende Seele‹

Bearbeitet von Ulrike Bodemann

KdiH-Band 3

Im spätmittelalterlichen Minnedialog von ›Christus und der minnenden Seele‹ wird die mystische Vorstellung von der Seele, die als jungfräuliche Braut nach der Vermählung mit Christus strebt, in einer Folge separater, zu jeweils neuen Gesprächen zwischen Christus und der Seele führender Handlungsstationen entwickelt. Je nach Fassung variieren neben der Ausführlichkeit der Einzeldialoge Anzahl und vor allem Anordnung der Stationen. Gemeinsam bleibt allen Versionen die dialogische Grundform – reimpaarweise sprechen Christus und die Seele zueinander – sowie die Zweiteilung der Szenenfolge in einen ersten Hauptabschnitt, der das Verhältnis zwischen Christus und der Seele in Situationen der Kasteiung der Braut durch den Bräutigam darstellt, und einen zweiten Hauptabschnitt, in dem das selbstbewußte Streben der Seele nach einer Vereinigung mit Christus in Bilder umgesetzt wird. Der ursprüngliche Gebrauchskontext dieser Text-Bild-Folgen, die als Stimulans zu kontemplativer Erfahrung den Weg der gläubigen Seele bis zur unio mystica vorführen, ist in dominikanischen Kreisen um Heinrich Seuse zu suchen. Die Qualen und Freuden der minnenden Seele sind mehrfach in visionären Bildern von Nonnenviten und -offenbarungen beschrieben worden (Christine Ebner, Margarethe Ebner u. a.). Im Umfeld der Nonnenseelsorge wurde wohl auch die Praxis geläufig, handschriftliche Bilderbogen in Abschriften (›gemalten Briefen‹) weiterzureichen, um sie als Instrumente religiöser und spiritueller Unterweisung zu nutzen. Denkbar ist, daß die ins 14. Jahrhundert anzusiedelnde Urfassung des Bildergedichts von Christus und der minnenden Seele ein zunächst zur privaten Andacht an der Wand angebrachter Bilderbogen oder ein Wandbild war, dem durch die Übertragung auf Papier größere Öffentlichkeit zuteil werden sollte. Mit den wenigsten Eingriffen scheint das Bildprogramm der Urfassung in die zwanzigszenigen Einblattdrucke des 15./16. Jahrhunderts übernommen worden zu sein, seine früheste Bezeugung findet es jedoch schon in ›Lesefassungen‹ des 14. Jahrhunderts, die als einundzwanzigste und wohl ebenfalls der Urfassung zuzurechnende Szene die Schluß-unio der Seele mit Christus enthalten. Deutlich jünger sind sowohl die nur handschriftlich überlieferte Versdichtung von der minnenden Seele als auch eine Prosaerweiterung, die lediglich als Inkunabelfassung erhalten ist. Alle vier Versionen werden im folgenden als eigene Untergruppen des Stoffs von ›Christus und der minnenden Seele‹ behandelt.

25.1. ›Bilderbogen-Lesefassung‹. Zwei Handschriften, beide noch dem 14. Jahrhundert entstammend, beinhalten selbständige und in Einzellesarten zum Teil stark variierende Versionen der Dialog-Vierzeiler. In ihnen ist die einundzwanzigszenige Urfassung des Bilderbogens in nahezu reine Lesefassungen umgeformt worden: Beiden Handschriften fehlen Illustrationen, an ihrer Stelle stehen aber regiebuchartige kurze Bemerkungen, die die Motive der Bildszenen benennen.

Die derzeit in der Biblioteka Jagiellońska aufbewahrte, ehemals Berliner Handschrift Ms.germ.quart. 1303,2 (Nr. 25.1.1.) enthält die in der Forschung als ›Bartschs minnende Seele‹ bezeichnete Fassung. In ihr sind die einundzwanzig Vierzeiler jeweils vermehrt um durchschnittlich acht Verse; ihnen folgen die Bildtitel. Die Schlußszene der Vereinigung ist zudem durch je zwei vor- und nachgeschobene Stationen zu einer fünfteiligen Sequenz aufgeschwellt, der als weitere Ergänzung ein Einschub aus dem ›Disput zwischen der minnenden Seele und unserem Herrn‹ (Vgl. Nr. 25.3.1. und Nr. 25.3.4.) vorausgeht. Wohl irrtümlich sind in der Mitte der Szenenfolge zwei Motive zu einem verschmolzen: Der Bildtitel zu den Reimpaaren vom Anbieten des Minnetranks bezieht sich auf den Text von der im Schlaf wachenden Seele (4rhie knit sie vor krvtzzig), der in der Handschrift ausgelassen ist.

In der Handschrift I 221 der Stadtbibliothek Mainz (Nr. 25.1.2.) hat die Folge der 21 Vierzeiler keinerlei Textzusätze. Anstelle der Bilder erscheinen hier, den Reimpaardialogen vorausgehend, Bildtitel in lateinischer Sprache; es fällt auf, daß allein die in den Einblattdrucken nicht vorhandene Schlußszene eine deutsche Beischrift hat.

Bei beiden Versionen dürfte es sich um Abschriften jener Bilderbogen-Fassung handeln, die auch als Vorlage der Einblattdrucke gelten muß. In ihren Zusammenhang sind weitere Abschriften der Vierzeiler zu stellen – ohne Bilder und ohne Beischriften, jedoch bis in den Wortlaut hinein identisch mit der Mainzer oder der Krakauer Abschrift. Der Text der letzten vier Szenen ist an Blatträndern des Cod. A.X.123 der Universitätsbibliothek Basel eingetragen (19v); die Blätter 124r–128v der Handschrift III.1.8o 32 der Universitätsbibliothek Augsburg enthalten die 21 Reimpaardialoge mit Versergänzungen ähnlich der Krakauer Handschrift, doch ohne deren sonstige Erweiterungen und in abweichender Reihenfolge.

25.2. Einblattdrucke. Erhalten ist als einziges vollständiges Exemplar der erst weit nach 1500 entstandene Münchner Einblattdruck mit typographischem Text (Nr. 25.2.C.), daneben gibt es Fragmente dreier älterer xylographischer Blätter (bzw. in einem Fall nur dessen Abpausung). Das Wiener Fragment (Nr. 25.2.D.) dürfte das älteste sein (um 1460/70); das wenig jüngere Berliner Fragment (Nr. 25.2.A.) sowie – ihm nachgeordnet, wenn nicht sogar von ihm abhängig – die Vorlagen der Karlsruher Pausen (Nr. 25.2.B.) und der Münchner Einblattdruck gehören einer anderen, jedoch dem Wiener Druck verwandten Tradition an. Der übereinstimmende Aufbau der Blätter wird auf die Urfassung des Bilderbogens zurückgehen: 20 Bildszenen mit jeweils zwei Dialogreimpaaren sind in fünf Reihen zu je vier Bildern angeordnet, die Bilder mit ihrem Begleittext lassen sich zeilenweise von links nach rechts und von unten nach oben lesen. Diese Anlage, die mit Beispielen aus der Tafel- oder Glasmalerei gut zu vergleichen ist, deutet auf die ursprünglich vertikale Anbringung als Wandbild hin.

Charakteristisch für die erhaltenen Einblattdrucke bzw. deren Fragmente ist, daß die in allen anderen Fassungen als Schlußbild fungierende Szene der endgültigen Vereinigung der Seele mit Christus fehlt; lediglich in Textanklängen wird sie in der viertletzten Szene (Christus umarmt und küßt die Seele) aufgerufen.

25.3. Die minnende Seele. Zu einer umfangreichen, nur handschriftlich überlieferten Lehrdichtung von 2112 Versen sind die Bilderbogenreimpaare im 15. Jahrhundert wohl im Konstanzer Raum aufgeschwellt worden. Alle vier bekannten Handschriften folgen mit ihrer Bildausstattung oder den dafür vorgesehenen Freiräumen einem festen Illustrationsprogramm. Ebenfalls fest zur Überlieferung gehören Reimpaarbeischriften, in denen die Bildmotive genannt werden. Dabei ist der zwanzigszenige Zyklus der Einblattdrucke nicht nur um den unio-Schluß ergänzt, sondern um ein zusätzliches Eingangsmotiv erweitert worden, das in Text und Ikonographie isoliert steht. Anders als in den übrigen Bildern, die stets Christus und die Seele in Frauengestalt als Dialogpartner und Akteure zeigen, erscheint hier, die Rede Christi über die Schrecken der weltlichen Ehe begleitend, die Seele als am Bett das Nachtgebet sprechende Frau und ein ihr – ähnlich der Bildformel einer Annuntiatio-Darstellung – zugewandter Engel. Das Motiv visualisiert eine für mystische Offenbarungsliteratur charakteristische Art des Gnadenerlebens: Nachdem der Leib eingeschlafen ist, wird die Seele von einem Engel zum Gnadengeschehen entführt. Gemeinsam sind den handschriftlichen Fassungen der Versdichtung schließlich noch die Auslassung der Szene ›Christus bewacht den Schlaf der Seele‹ sowie einige Motivvarianten. So ist das Fluchtmotiv (siehe unten S. 110; Bildthema 11) umgekehrt (nicht Christus entflieht der Seele, sondern diese flieht vor Christus), und zur Marter (Bildthema 5) wird die Seele nicht nach Art der Kümmernis ans Kreuz, sondern an den Galgen gehängt.

Die Reihenfolge der Szenen unterscheidet sich von der der Einblattdruckfassung erheblich, doch lassen sich die Diskrepanzen z. T. auf abweichende Lesepraktiken zurückführen (Williams-Krapp [1989]). Die Versdichtung folgt einer Vorlage, deren Bilder ähnlich wie die Einblattdrucke in Zeilensequenzen von unten nach oben angeordnet gewesen sein dürften. Während die fünf Zeilen der Drucke jedoch jeweils von links nach rechts zu lesen sind, wurde beim Aneinanderreihen der Zeilen für die Handschriftenfassung stets die Leserichtung gewechselt, so daß – abgesehen von einigen Unregelmäßigkeiten – jede zweite Zeile der Drucke der zu vergleichenden Sequenz der Handschriften in umgekehrter Reihenfolge entspricht.

Im Überlieferungskontext der Dichtung zeichnet sich eine enge Verwandtschaft zwischen der Einsiedelner (25.3.1.) und der Überlingener Handschrift (25.3.4.) ab; ›Christus und die minnende Seele‹ schließt beidemale unmittelbar an das strophische Gedicht ›Christus und die kreuztragende Minne‹ an und wird gefolgt von dem ›Disput zwischen der minnenden Seele und unserem Herrn‹ (beide Zusätze sind jedoch auch unabhängig von der ›minnenden Seele‹ überliefert).

25.4. Inkunabelfassung mit Prosaerweiterung. Auf 24 Szenen ist die Bild-Text-Folge in einer Fassung erweitert, die lediglich ein selten erhaltener Erfurter Druck (Nr. 25.4.a.) überliefert. Jede Szene wird hier begleitet von Prosaerörterungen, in denen Schriftstellen und Kirchenväter, aber auch antike und pseudoantike Autoritäten (Seneca, Boethius, Cato) herangezogen werden. Den Schluß bildet ein kurzes Versgebet. Auch hier weicht die Szenenfolge von derjenigen der Einblattdrucke stark ab, ohne daß aber die Zweiteilung der Folge ganz aufgehoben wäre. Auch hier könnte der Wechsel der Leserichtungen einzelner Bildzeilen der Vorlage (von rechts nach links statt von links nach rechts) Szenenverschiebungen verursacht haben (vgl. in der folgenden Bildthemenliste die Themen 9 bis 12 und 17 bis 20). Im Mittelteil sind zudem drei zusätzliche Szenen in den Standardzyklus integriert worden. Alle drei (Christus begehrt Einlaß in das Herz der Seele, Christus entzündet die Seele in Liebesfeuer, Christus reicht der Seele den Liebesapfel) entstammen dem Bildrepertoire mystischer Visionsliteratur.

Bildthemenliste

Die von 1 bis 21 gezählten Themen dürften dem Bestand der Urfassung entsprechen. Individuell ergänzte Themen sind durch Asterisken, in einzelnen Fassungen nicht vorhandene Szenen durch waagerechten Strich, wegen Blattverlusts verlorene Bilder durch Schrägstrich gekennzeichnet.

Bildthemen Untergruppe (ggf. Katalognummer)
25.1.:
25.1.1.
25.1.:
25.1.2.
25.2.:
25.2.C.
25.2.:
25.2.D.
25.3.
25.4.
Ergänzung: Nachtgebet der Seele im Beisein des Engels *
1. Die Seele wird von Christus geweckt 1 1 1 1 1 3
2. Christus verwehrt der Seele die Speisen 2 2 2 / 2 4
3. Christus blendet und lähmt die Seele 4 4 3 / 4 1
4. Christus kasteit die Seele durch Rutenschläge 3 3 4 / 3 6
5. Christus hängt die Seele ans Kreuz 5 6 5 5 8 7
6. Christus entblößt die Seele 6 7 6 6 7 5
7. Christus nimmt der Seele die Spindel 7 8 7 / 6 8
Ergänzung: Christus begehrt Einlaß in das Haus der Seele *
8. Christus unterweist die Seele 8 12 8 / 5 2
9. Christus bewacht den Schlaf der Seele 9/10 5 9 / 12
Ergänzung: Christus reicht der Seele den Liebesapfel *
10. Christus reicht der Seele den Minnetrank 9 10 10 10 11
11. Christus entflieht der Seele 11 10 11 11 10
Ergänzung: Christus entzündet die Seele in Liebesfeuer *
12. Christus verbirgt sich hinter dem Vorhang 12 11 12 12 12 9
13. Die Seele schießt den Minnepfeil auf Christi Herz 13 13 13 / 13 16
14. Die Seele führt Christus an einem Strick 14 14 14 / 14 14
15. Christus bietet der Seele Geld an 15 15 15 15 15 15
16. Christus flüstert der Seele sein Gnadenwort zu 16 16 16 16 18 13
17. Christus umarmt und küßt die Seele 17 17 17 17 17 20
18. Christus geigt vor der Seele 19 19 18 18 16 19
19. Christus mit Trommel vor der Seele 18 18 19 / 19 18
20. Christus bietet der Seele die Krone an 20 20 20 / 20 17
Ergänzung: Ruf Christi aus dem Himmel *
Ergänzung: Ewige Anbindung *
21. Vereinigung 21 21 21 21
Ergänzung: Die Seele liegt in Minnesiechtum danieder *
Ergänzung: Krönung im ewigen Leben *
Literatur zu den Illustrationen:

Romuald Banz: Christus und die minnende Seele. Untersuchungen und Texte. Breslau 1908 (Germ. Abh. 29) [dazu Philipp Strauch: Rezension. AfdA 34 (1910) S. 255–261], Nachdruck Hildesheim/New York 1977, S. 223–249; Walter Muschg: Die Mystik in der Schweiz 1200–1500. Frauenfeld/Leipzig 1935, S. 275–278; Hellmut Rosenfeld: Der mittelalterliche Bilderbogen. ZfdA 85 (1953) S. 66–75, hier S. 72–74; Eric Jacobson: Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees »Trutznachtigall«. Studien zum Fortleben der Antike I. København 1954 (Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Historisk-filologiske Meddelelser, bind 34, nr. 3), besonders S. 52–54; Hellmut Rosenfeld: ›Christus und die minnende Seele‹. In: VL 1 (1978) Sp. 1235–1237; Werner Williams-Krapp: Bilderbogen-Mystik. Zu ›Christus und die minnende Seele‹. Mit Edition der Mainzer Überlieferung. In: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Konrad Kunze, Johannes G. Mayer, Bernhard Schnell. Tübingen 1989 (TTG 31), S. 350–364.