96a. Nonnenandacht
Bearbeitet von Sarah Glenn DeMaris
KdiH-Band 9
Die zwei Handschriften der Stoffgruppe Nonnenandacht weisen trotz unterschiedlichem Inhalt und auch Entstehungsort – eine kommt aus dem oberrheinischen Dominikanerinnenkloster Unterlinden (Nr. 96a.0.1.), eine aus dem norddeutschen Augustiner-Chorfrauenstift Steterburg (Nr. 96a.0.2.) – Ähnlichkeiten auf, die eine Zusammenstellung in dieser Stoffgruppe begründen. Hergestellt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in religiösen Frauengemeinschaften, dienten die zwei kleinformatigen Pergament-Handschriften wohl als persönliche Andachtsbücher der Klosterfrauen. Die Marienverehrung – Maria als Mutter des Jesuskindes und nicht als mater dolorosa oder pietà – ist der zentrale Inhalt der beiden Andachtsbücher.
Der ›Liber miraculorum‹ (Nr. 96a.0.1.), ein lateinisch-deutscher Mischtext, erzählt von einem Altarbild des Colmarer Unterlinden-Klosters, das eine Reihe von Wundern verursachte. Der Text beschreibt nicht nur die Mirakel, sondern auch die Herstellung des Altarbildes als Kopie von Lukas’ Bild der Jungfrau Maria mit Kind (siehe
Zwei eingeklebte Bilder am Anfang und am Ende von Nr. 96a.0.1. weisen einen klaren Textbezug auf. Der Metallschnitt der Jungfrau mit Kind (verso des Vorsatzblattes) steht stellvertretend für das Altarbild, das – als Mittelpunkt der Handlung – in fast allen nachfolgenden Federzeichnungen vorkommt. Weil die jüngere Forschung, auch
Der zweite hier zu besprechende Fall, ein singulär überlieferter Text mit zahlreichen Reimspuren, wenn auch nicht konsequent gereimt, trägt in der Handschrift (Nr. 96a.0.2.) keinen Titel. Geeignet ist weder der Titel ›Gebete in Bezug auf die Geburt Christi‹ (
Ein vergleichbarer physischer Umgang mit dem Jesuskind findet sich in Nr. 96a.0.1. nicht, wohl aber in den oben erwähnten ›Vitae sororum‹, die in der Wolfenbütteler Handschrift zusammen mit dem ›Liber miraculorum‹ überliefert werden. Dort berichtet Katharina von Gueberschwihr von mehreren Schwestern, die das Erscheinen des Jesuskindes erleben. Elisabeth von Rufach durfte sogar eine ganze Nacht mit ihm verbringen: Es saß auf ihrem Krankenbett, streichelte ihr die Lippen und das Gesicht mit seinen zarten Händen und unterhielt sie durch sein lustiges Hin- und Herlaufen (Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 164.1 Extrav., 67v). Schwestern in beiden Häusern, ob Stift oder Kloster, erlebten das Jesuskind physisch und interaktiv.
In beiden hier untersuchten Handschriften wird die Handlung über die Bilder lebhaft und konkret dargestellt, auch wenn es um geheimnisvolle Begriffe oder Begegnungen geht. Die innige Seele lobt Maria, die durch das Kochen für das Jesuskind spiset alle creaturen (Nr. 96a.0.2., 33r). Diese erhabene Metapher wird in der Bebilderung auf den wörtlichen Sinn reduziert, denn Maria beim Kochen ähnelt eher einer überarbeiteten Hausfrau als der Ernährerin der Menschheit: Mit einer Hand rührt sie den Brei über offenem Feuer, im linken Arm das gewickelte Kind, der Blasebalg vor ihr auf dem Boden. Auf ähnliche Weise wird das geistige Gesicht einer Colmarer Klosterfrau nur physisch dargestellt, während die geistige Deutung verloren geht. Zwei Ströme Öl, die von den Händen zweier schwebender Figuren fließen, werden von einer Stimme als goͤtliche gnade das wirt gegeben allen den die herkumen (Nr. 96a.0.1., 24v) erklärt. Im Bild tritt diese metaphorische Bedeutung hinter die konkrete zurück: Das Öl wird sorgfältig in einem großen Fass vor dem Altarbild aufgefangen, während eine Klosterfrau ein weiteres kleineres Fass bereithält (23ro).
Ähnlich ist in den zwei Handschriften zudem die aktive Beteiligung der dargestellten Klosterschwestern an der jeweiligen Handlung. Ohne Ausnahme wird in jedem Bild mindestens eine Schwester (die innige Seele in Nr. 96a.0.2.) gezeigt, und zwar als aktive Teilnehmerin am Geschehen. In einer Vision über die zukünftige Weihe des Colmarer Altars zeigen acht Schwestern demonstrativ auf das Basler Münster; dadurch machen sie deutlich, dass ihr Altar und das Münster einen gemeinsamen Weihtag feiern sollten (Nr. 96a.0.1., 17ro). In einem weiteren Bild (26ru) steht eine Schwester – quasi als Mittlerin – zwischen dem Altarbild und drei Pilgern, die Geschenke vor sich halten. Die Darstellung aktiver Schwestern, die den Tag der Altarweihe bestimmen und eine Art Treuhänderpflicht den Pilgern gegenüber ausüben, unterstützt
Eine dritte Gemeinsamkeit in den zwei Handschriften gibt Auskunft über Latinität und Ablasspraxis im Steterburger Stift und im Kloster Unterlinden. Ein Mariengebet, das erste von drei Gebeten, die dem Text und der Bilderreihe in Nr. 96a.0.2. folgen, wird zuerst auf Latein, dann auf Deutsch (Nu to dude) wiedergegeben (34r-v), und zwar – der Schreiberin nach – weil die Schwestern das Gebet täglich in beiden Sprachen beteten: we dut vor ghescreuen beth alle daghe lest to latine iste to dude. Sie erklärt weiter, dass das Beten immer vor dem Marienbild stattfinde und dass ein Papst dafür Ablässe erteilt habe: vor vnser leuen vrauwen belde […] vertich daghe afflates vnde twe karenen (34v). Nr. 96a.0.1. informiert auf ähnliche Weise: Der ›Liber miraculorum‹ wird abwechselnd auf Latein und Deutsch wiedergegeben, was auch des Lateinischen unkundigen Schwestern ermöglichte, das Buch zu lesen. Die sieben nachfolgenden Mariengebete werden jedoch nur auf Deutsch wiedergegeben, wohl weil diese Gebete privat und vor dem Marienbild – wie auch das Mariengebet des Steterburger Stiftes – ausgerichtet wurden. Und wie im Steterburger Stift werden Ablässe mit der Marienverehrung in Verbindung gebracht: Ablässe für alle, die sin zarte muͦter an diser stat sint loben vnd eren (Nr. 96a.0.1., 22r), werden nicht nur im ›Liber miraculorum‹ angekündigt, sondern auch ein zweites Mal nach den Mariengebeten aufgelistet. (Siehe
Nr. 96a.0.1.: