Der Codex Buranus (um 1230, Nr. 76.1.1.) ist eine hinsichtlich Umfang und Struktur einzigartige Sammlung weltlicher lateinischer Gedichte. Er überliefert strophische Lieder, wohl auf der Basis kleinerer Sammlungen zusammengestellt, und quantitierende Versus von spätantiken und mittelalterlichen Dichtern, die zum Kanon gehörten und in bekannten Sammlungen oder Florilegien überliefert sind. Die Handschrift nennt keine Autoren, aber einige Verfasser sind durch Parallelüberlieferung nachweisbar.
Neben den lateinischen Liedern überliefert der Codex Buranus auch deutsche Strophen (eigenständige Lieder, aber vor allem am Ende lateinischer Lieder angefügte Zusatzstrophen, daneben auch gemischtsprachige Lieder – selten auch mit romanischen Teilen – sowie Interlinearglossen; zu den deutschen Texten siehe grundlegend Wachinger [1984], vgl. auch Edwards [2000], besonders die Zusammenstellung des deutschen Materials auf S. 68–70). Damit bietet die Handschrift nicht nur die wichtigste und umfassendste Überlieferung weltlicher lateinischer Lyrik, sondern stellt auch die erste Sammlung mit deutschen Liedern dar. Die differenzierte thematische Gliederung der Sammlung (im Einzelnen siehe Vollmann [1987] S. 906–909) zeugt ebenso vom Stellenwert, den man der Lyrik beimaß, wie das Ausstattungsniveau des Codex, der sorgfältig geschrieben und mit Initialen und Miniaturen versehen wurde (dass der Codex überhaupt Miniaturen erhielt, ist bemerkenswert, auch wenn es sich, wie Diemer/Diemer betonen, um eine »thematisch wenig stringente, beiläufig schmückende Illustration« handelt; in: Vollmann [1987] S. 1294). Die Miniaturen sind, der anonymen Überlieferung der Lieder entsprechend, auf den Inhalt und nicht auf die Dichter der Texte bezogen (worin sie sich von den um 1300 einsetzenden illustrierten Liederhandschriften in der Manesse-Tradition unterscheiden, siehe Untergruppe 76.2.). Ob die Bilder zu den lateinischen oder den deutschen Texten gehören, lässt sich nicht immer zweifelsfrei sagen, da sie Illustrationen der (häufig gemischtsprachigen) Text-Gruppen darstellen. Insofern tragen sie dem Aufbau der Handschrift Rechnung, auch wenn sie »kaum eine übergreifende Programmaussage intendieren« (Diemer/Diemer [1987] S. 67) und die Illustrierung hinter der Sorgfalt der Textsammlung zurückbleibt.