Das im frühen 13. Jahrhundert entstandene ›Nibelungenlied‹, einer der berühmtesten epischen Texte des deutschsprachigen Mittelalters, erzählt in zwei Teilen die Geschicke der Burgunden: im ersten Teil die Brautwerbung von Gunther um Brünhild und von Siegfried um Kriemhild sowie die Ermordung Siegfrieds durch Hagen, im zweiten Teil die Rache Kriemhilds an Hagen und ihren Brüdern. Der Text ist mit 37 Textzeugen, darunter 13 vollständigen, breit überliefert. Unter diesen befinden sich nur drei Handschriften mit figürlichem Buchschmuck. Deren älteste, der St. Galler Cod. Sang. 857 (Nr. 96.0.2.; um 1260), besitzt einige historisierte Initialen, bei denen ein Textbezug plausibel gemacht werden kann. Der Wiener Cod. 15478 des späten 15. Jahrhunderts (Nr. 96.0.3.) enthält eine Titelminiatur mit der Szene von Siegfrieds Ermordung. Nur die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 855 (Nr. 96.0.1.; zwischen 1436 und 1440) hat mit ihren ursprünglich wohl 40 Bildern ein Bildprogramm entwickelt. (Dass die ›Klage‹ auch dort, wo sie in Überlieferungsgemeinschaft mit einem illustrierten ›Nibelungenlied‹ steht, keinen Bildschmuck erhielt, erklärt sich vermutlich aus dem reflektierenden Charakter des Textes.)
Mit nicht-figürlichem Buchschmuck ausgestattet sind die Handschriften Cologny-Genève, Cod. Bodmer 117, München, Cgm 31 und Wien, Cod. 14281. Auch das Ambraser Heldenbuch (Wien, Cod. Ser. n. 2663, Nr. 53.0.4.) enthält zwar zahlreiche marginale Pflanzen- und Tiermalereien, aber diese haben keinen Bezug zum Text. Die Handschrift Basel, N I 1, 99a enthält Randzeichnung von Drachen auf 3r, 4r, 6r, 7r und wohl auch 8r (Fragment), die möglicherweise als Wissen um den Prätext (Siegfried, den Drachenkämpfer) zu deuten sind, ohne dass es im ›Nibelungenlied‹ selbst einen Textbezug gäbe.
Damit kann man konstatieren, dass der Nibelungenstoff anders als andere epische Literatur »in seinem alpenländischen Verbreitungsgebiet ikonographisch während des Mittelalters nicht präsent« ist (Aderlaß und Seelentrost [2003] S. 47, siehe auch Frühmorgen-Voss [1975c] S. 11–13; nur im Nordwesten Europas haben sich frühe Darstellungen wie Bildsteine oder Felsritzungen erhalten, siehe Der Hundeshagensche Codex [2012] S. 20–22, Abb. 1–3; auf eine heute verlorene Wormser Wandmalerei, die Siegfried und Kriemhild darstellte, verweist eine Notiz Sebastian Brants, Henkel [2003]). Dies steht in deutlichem Gegensatz zur reichen Bebilderung etwa des Dietrichstoffs (vgl. die Stoffgruppen 29. Dietrich von Bern und 53. Heldenbücher). Curschmann (1999, S. 431) vermutet den Grund darin, dass ausschlaggebend für die Aufnahme eines heldenepischen Stoffes in die Malerei die Faszination des ›Anderen‹ gewesen sei, also die »Gegenwelt der Zwerge und der Riesen«, die im ›Nibelungenlied‹ nicht vorkommt. Dass der Grund jedenfalls nicht in einem Mangel an ikonografischen Vorbildern zu sehen ist, zeigt Braun-Niehr (2012b, S. 104f.) mit Verweis auf bereits im 13. Jahrhundert vorhandene Bildtypen, etwa für Gespräch, Kampf, Jagd oder Festmahl. Es ist bemerkenswert, dass keine ›Nibelungenlied‹-Handschrift aus der Werkstatt Diebold Laubers erhalten ist, durch die der Stoff illustriert worden wäre; auch entwickelte sich keine Volksbuchtradition im 15. Jahrhundert, die (bebilderte) Drucke hervorgebracht hätte. Erst im 16. Jahrhundert entstand ›Das Lied vom hürnen Seyfried‹ (Erstdruck Nürnberg, Kunegund Hergotin, [um 1530], VD16 H 4072), ein Volksbuch, das den Nibelungenstoff aufgreift und bebildert.
Die spärliche bildliche Repräsentation des Stoffes änderte sich in der Neuzeit drastisch. Im 18. Jahrhundert begann eine vielfältige Rezeption in Literatur und Kunst (Heinzle [2003]). Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Stoff in zahlreichen Gemälden verarbeitetet, von dem Schweizer Johann Heinrich Füssli (vgl. Hattendorf/Kiefer [2003]) und in der deutschen Romantik von Peter von Cornelius, Karl Philipp Fohr, Ferdinand Fellner und Julius Schnorr von Carolsfeld (vgl. zu diesen Büttner [2003]). Letzterer schuf auch die Wandgemälde in den Nibelungensälen der Münchner Residenz (vollendet 1867; vgl. Ott [2000a] S. 347–349). Unter den weiteren Wandmalereien, die den Stoff aufgriffen, ist das Nibelungenzimmer in der Drachenburg, 1882 erbaut von Stephan von Sarter, und der Große Rathaussaal zu Passau (ausgemalt 1892) zu nennen (Wappenschmidt [2003]). Diese Tradition setzte sich im frühen 20. Jahrhundert fort, etwa im Nibelungen-Wandbildzyklus im Wormser Rathaus, 1913–1915 gemalt von Karl Schmoll von Eisenwerth (Schmoll gen. Eisenwerth [2003]). Letzterer griff nicht nur auf das ›Nibelungenlied‹, sondern auch auf Richard Wagners Aneignung des Stoffs in seinem ›Ring des Nibelungen‹ zurück, der die bildende Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts prägte, etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Ausmalung des Nibelungengangs Ludwigs II. in der Münchner Residenz (1865/66 erbaut, 1944 zerstört, vgl. Schulze [2013]). Zur Rezeption des ›Nibelungenliedes‹ in der Kunst seit 1945 siehe Ott (2000a) S. 354–356 und Kimpel/Werckmeister (2003).