96.0.1. Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 855
Bearbeitet von Nicola Zotz
KdiH-Band 9
Zwischen 1436 und 1440 (Wasserzeichen).
Augsburg.
Entstanden in Augsburg, möglicherweise im Umfeld der Familie Gossembrot (Einbandmakulatur einer Urkunde des Kaufmanns Hans Gossembrot von 1434). Diverse Namenseinträge finden sich auf heute verlorenen Blättern, die noch von Helfrich Bernhard Hundeshagen (1784–1858) bezeugt sind (seine Notizen sind versammelt in Berlin, Ms. germ. fol. 854), darunter Rudolff Sigmünd […] 1496, w v degenfeld sowie e v first (vielleicht handelt es sich aber auch um Stammbuch-, nicht Besitzereinträge,
1. | 3r–158v | ›Nibelungenlied‹ |
2. | 159r–188v | ›Klage‹ |
Papier, 192 Blätter (erhalten sind 179 originale Blätter; Anfang des 19. Jahrhunderts wurden beim Neubinden der Handschrift 13 leere Blätter dort ergänzt, wo Blätter verloren gegangen waren [Bl. 1, 2, 4, 129, 183–187, 189–192], so dass die Handschrift heute wieder die ursprüngliche Blattzahl von 192 aufweist), 280 × 205 mm, Bastarda, eine Hand (
ostschwäbisch.
Noch 37 von ursprünglich wohl 40 kolorierten Federzeichnungen zu Text 1. An der Ausführung waren offenbar mehrere Maler beteiligt, ohne dass eine genaue Händescheidung möglich wäre. Auf den Bildern gelegentliche schwarze oder blaue Kritzeleien von einer Hand des 16. Jahrhunderts (
Das Bildprogramm wurde für diese Handschrift (oder eine verlorene Vorlage) entwickelt: Eine der Illustrationen bezieht sich auf nur hier überlieferte Zusatzstrophen (111v; vgl.
Die Bilder sind oben oder unten auf der Seite angebracht (nur in fünf Fällen gibt es Schrift sowohl über als auch unter dem Bild: 45v, 71r, 90r, 92v, 98r). Sie erstrecken sich über die Breite des Schriftspiegels; in der Höhe sind sie variabel: Meist sind sie halbseitig und damit ungefähr quadratisch, sie können aber mehr (bis zu drei Vierteln der Seite) oder weniger (bis zu einem Viertel der Seite) Raum einnehmen. Ein Rahmen ergibt sich nur durch die roten Schriftspiegelbegrenzungen (Ausnahme: dünner schwarzer Federstrich auf 45v), mitunter ist dünn eine doppelte rote Linie als Begrenzung zum Schriftbereich gezogen. Bei Innenräumen (z. B. 3r, 128v oder 142r) können Architekturelemente (Säulen, Gewölbe) eine rahmende Funktion bekommen. Manchmal ragen Bildelemente aus dem vorgesehenen Bereich hinaus (auf 30r und 122r Fortsetzung der Bilder sogar jenseits einer Schriftzeile).
Die Bilder stehen jeweils vor den Überschriften zu den Aventiuren (Ausnahme 122r: erst die Überschrift, dann das Bild) und beziehen sich in der Regel auf diese, weisen also voraus. Vier Blätter sind verloren und wurden vermutlich wegen ihrer Bilder entfernt; daraus ergibt sich eine konsequente Bild-Anordnung in dieser Handschrift: Fast jede Aventiure erhielt ein Bild (die Bilder zu Aventiure 3 und 33 standen vermutlich auf den entfernten Seiten 4v bzw. 129r), nur Aventiure 2 blieb ohne Illustration. Stattdessen wurde vor ihr ein rückbezügliches Bild zu Aventiure 1 eingefügt (Kriemhilds Traum, 3r). Die letzte Aventiure bekam zwei Bilder, eines am Anfang und eines am Ende, das gleichzeitig als Schlussbild des Textes gelesen werden kann. Unsicher ist nur das Bildprogramm am Anfang der Handschrift, wo zwei Blätter fehlen: Sicher ist, dass sich auf diesen der Text von Aventiure 1 befand, der unten auf 2v endete. Die 19 Strophen der Aventiure hätten zwei Seiten gefüllt oder drei Seiten, wenn eine davon ein Bild enthielt und eine weitere eine reduzierte Zeilenzahl aufgewiesen hätte (vgl. etwa die vor einem folgenden Bild nicht ganz gefüllte Seite 17r). Möglicherweise begann die Handschrift also auf 1v mit einem Bild, so dass die erste Aventiure ebenso wie die letzte von Bildern eingerahmt war.
Im Zentrum der Bilder stehen Personen und ihre Interaktion. Sie befinden sich entweder draußen vor einer Burg oder Stadt (Landschaft ohne Architekturelemente nur auf 10r, 58v, 86v, 103r) oder in einem Innenraum. Die meisten Bilder zeugen von einem Interesse an Perspektive, die durch Linienführung (besonders bei Innenräumen oder Flüssen), Größenabstufung oder nach hinten sich verdunkelnde Farbe gestaltet ist. Um möglichst viele Details erfassen zu können, klappte der Maler manche Szenen in die Fläche oder zeigte sie »gleichsam panoramisch von einem erhöhten Standpunkt aus« (
Farbe, mal deckend, mal unter Einbeziehung des Papiergrunds, ist auch eingesetzt, um Plastizität etwa bei Gewändern wiederzugeben. Dasselbe gilt für Schraffuren, sowohl in der Zeichnung als auch in der Ausmalung (vgl. etwa die feinen roten Schraffuren, die für Inkarnat verwendet werden,
Die Bilder greifen auf Buch-, Tafel- und Glasmalerei zurück und übertragen etablierte Ikonografien aus anderem Zusammenhang auf den Nibelungenstoff (
Übersicht und Beschreibung aller Bildthemen zuletzt bei
Ein Schwerpunkt der Text-Bild-Forschung liegt auf jenen Bildern, in denen nibelungenliedspezifische Szenen dargestellt sind. Dazu gehören Kriemhilds Falkentraum (3r), Siegfrieds Ermordung (58v), Kriemhild findet Siegfrieds Leiche (64r), der Hort wird nach Worms gebracht (71r) oder Kriemhild tötet Hagen (158v). Das Bildprogramm der Handschrift hat allerdings auffällig wenige solcher Ikonografien ausgebildet. So fehlen etwa Darstellungen zu Gunthers Brautnächten mit Brünhild oder zum Streit der Königinnen (dieser hat zwar auf 51v ein Bild bekommen, als Streit lässt sich die dargestellte Redesituation aber nur mit Textkenntnis deuten). Die Brautwerbung um Brünhild ist lediglich mit zwei Ankunftsszenen illustriert, nicht etwa mit dem Steigbügeldienst oder dem Wettkampf.
Unabhängig von solchen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen bleibt der Befund, dass die Bilder eine Vorliebe für höfische Standardsituationen zeigen. Laut
Nur auf 122r folgt das Bildthema (Turnierszene) gar nicht der Überschrift (wie sy des morgens ze dem múnster giengen; vgl. auch die Ausführungen zum Überschrift-Bild-Verhältnis bei
In mancher Hinsicht hat der Illustrator eine vom Text abweichende Gewichtung vorgenommen. Ob die Darstellung Kriemhilds als positiv gesehen werden kann (
Die dargestellten Standardsituationen haben ebenso wie die Bedeutung repräsentativer Ausstattung eine Entsprechung im Text, der einerseits entlang höfischer Interaktionen erzählt ist und diese auch in den Aventiurenüberschriften benennt (Empfang oder Abreise, Werbung, Gespräch, Kampf) und der sich andererseits den Raum für die Schilderung von Prunk nimmt (vgl. die sogenannten Schneiderstrophen). Auch die von der Forschung mitunter als geschmacklos empfundenen Bilder des zweiten Teils (die Burgunden werfen die Toten aus dem Saal, 133r) haben eine Entsprechung in der Brutalität und Schonungslosigkeit, mit der der Text den Untergang der Burgunden erzählt.
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Abb. 176: 119v. Die Burgunden gehen schlafen.
Abb. 177: 133r. Die Burgunden werfen die Toten aus dem Saal.