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96.0.1. Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 855

Bearbeitet von Nicola Zotz

KdiH-Band 9

Datierung:

Zwischen 1436 und 1440 (Wasserzeichen).

Lokalisierung:

Augsburg.

Besitzgeschichte:

Entstanden in Augsburg, möglicherweise im Umfeld der Familie Gossembrot (Einbandmakulatur einer Urkunde des Kaufmanns Hans Gossembrot von 1434). Diverse Namenseinträge finden sich auf heute verlorenen Blättern, die noch von Helfrich Bernhard Hundeshagen (1784–1858) bezeugt sind (seine Notizen sind versammelt in Berlin, Ms. germ. fol. 854), darunter Rudolff Sigmünd […] 1496, w v degenfeld sowie e v first (vielleicht handelt es sich aber auch um Stammbuch-, nicht Besitzereinträge, Vorderstemann [2012] S. 97f.). Weiterführend scheint ein Hinweis auf Martin Rifflinck als möglichen Besitzer (Abt in Eberbach von 1498 bis 1506), der mit dem Humanistenkreis des Wormser Fürstbischofs Johann von Dalberg in Verbindung stand, auf dessen Besitz es wiederum vereinzelte Hinweise gibt. Der erste gesicherte Besitzer der Handschrift ist Hundeshagen, nach dem die Handschrift auch ihren Namen in der Forschung hat. Unklar ist, wie er an die Handschrift gelangte (er selbst gibt an, sie bei einem Mainzer Antiquar am 6.1.1816 erstanden zu haben, Zweifel an dieser Version sind aber angebracht; möglichweise hat Hundeshagen sie aus einem säkularisierten Kloster mitgenommen, siehe Vorderstemann [2012] S. 92–94). Nach seinem Tod verliert sich die Spur der Handschrift (Nachlassverwalter war Christian von der Emden [1797–1869]); 1867 wurde sie beim Antiquariat Lempertz in Bonn von der Königlichen Bibliothek erworben. – Zur Herkunft der Handschrift siehe ausführlich Vorderstemann (2012) und Eser (2015) S. 48–154.

Inhalt: Hundeshagenscher Codex
1. 3r–158v ›Nibelungenlied‹
2. 159r–188v ›Klage‹
I. Kodikologische Beschreibung:

Papier, 192 Blätter (erhalten sind 179 originale Blätter; Anfang des 19. Jahrhunderts wurden beim Neubinden der Handschrift 13 leere Blätter dort ergänzt, wo Blätter verloren gegangen waren [Bl. 1, 2, 4, 129, 183–187, 189–192], so dass die Handschrift heute wieder die ursprüngliche Blattzahl von 192 aufweist), 280 × 205 mm, Bastarda, eine Hand (Becker [1977, S. 151] nimmt eine andere Hand für Text 2 an), einspaltig, 29–39, meist 32 Zeilen, Verse abgesetzt (Text 1) bzw. nicht abgesetzt, aber mit Reimpunkten versehen (Text 2), rote Überschriften zu Beginn der Aventiuren und rote Caput-Zeichen bei Strophenbeginn (Text 1), eine rote Initiale und etliche Lombarden (Text 2).

Schreibsprache:

ostschwäbisch.

II. Bildausstattung:

Noch 37 von ursprünglich wohl 40 kolorierten Federzeichnungen zu Text 1. An der Ausführung waren offenbar mehrere Maler beteiligt, ohne dass eine genaue Händescheidung möglich wäre. Auf den Bildern gelegentliche schwarze oder blaue Kritzeleien von einer Hand des 16. Jahrhunderts (Braun-Niehr [2012b] S. 114).

Das Bildprogramm wurde für diese Handschrift (oder eine verlorene Vorlage) entwickelt: Eine der Illustrationen bezieht sich auf nur hier überlieferte Zusatzstrophen (111v; vgl. Thali [2015] S. 253–256).

Format und Anordnung:

Die Bilder sind oben oder unten auf der Seite angebracht (nur in fünf Fällen gibt es Schrift sowohl über als auch unter dem Bild: 45v, 71r, 90r, 92v, 98r). Sie erstrecken sich über die Breite des Schriftspiegels; in der Höhe sind sie variabel: Meist sind sie halbseitig und damit ungefähr quadratisch, sie können aber mehr (bis zu drei Vierteln der Seite) oder weniger (bis zu einem Viertel der Seite) Raum einnehmen. Ein Rahmen ergibt sich nur durch die roten Schriftspiegelbegrenzungen (Ausnahme: dünner schwarzer Federstrich auf 45v), mitunter ist dünn eine doppelte rote Linie als Begrenzung zum Schriftbereich gezogen. Bei Innenräumen (z. B. 3r, 128v oder 142r) können Architekturelemente (Säulen, Gewölbe) eine rahmende Funktion bekommen. Manchmal ragen Bildelemente aus dem vorgesehenen Bereich hinaus (auf 30r und 122r Fortsetzung der Bilder sogar jenseits einer Schriftzeile).

Die Bilder stehen jeweils vor den Überschriften zu den Aventiuren (Ausnahme 122r: erst die Überschrift, dann das Bild) und beziehen sich in der Regel auf diese, weisen also voraus. Vier Blätter sind verloren und wurden vermutlich wegen ihrer Bilder entfernt; daraus ergibt sich eine konsequente Bild-Anordnung in dieser Handschrift: Fast jede Aventiure erhielt ein Bild (die Bilder zu Aventiure 3 und 33 standen vermutlich auf den entfernten Seiten 4v bzw. 129r), nur Aventiure 2 blieb ohne Illustration. Stattdessen wurde vor ihr ein rückbezügliches Bild zu Aventiure 1 eingefügt (Kriemhilds Traum, 3r). Die letzte Aventiure bekam zwei Bilder, eines am Anfang und eines am Ende, das gleichzeitig als Schlussbild des Textes gelesen werden kann. Unsicher ist nur das Bildprogramm am Anfang der Handschrift, wo zwei Blätter fehlen: Sicher ist, dass sich auf diesen der Text von Aventiure 1 befand, der unten auf 2v endete. Die 19 Strophen der Aventiure hätten zwei Seiten gefüllt oder drei Seiten, wenn eine davon ein Bild enthielt und eine weitere eine reduzierte Zeilenzahl aufgewiesen hätte (vgl. etwa die vor einem folgenden Bild nicht ganz gefüllte Seite 17r). Möglicherweise begann die Handschrift also auf 1v mit einem Bild, so dass die erste Aventiure ebenso wie die letzte von Bildern eingerahmt war.

Bildaufbau und -ausführung:

Im Zentrum der Bilder stehen Personen und ihre Interaktion. Sie befinden sich entweder draußen vor einer Burg oder Stadt (Landschaft ohne Architekturelemente nur auf 10r, 58v, 86v, 103r) oder in einem Innenraum. Die meisten Bilder zeugen von einem Interesse an Perspektive, die durch Linienführung (besonders bei Innenräumen oder Flüssen), Größenabstufung oder nach hinten sich verdunkelnde Farbe gestaltet ist. Um möglichst viele Details erfassen zu können, klappte der Maler manche Szenen in die Fläche oder zeigte sie »gleichsam panoramisch von einem erhöhten Standpunkt aus« (Ott [2000a] S. 330); so sind auf 98r gleichzeitig von vorn der Abschied Gunthers von Brünhild im Innenhof der Burg und von schräg oben die zur Abreise bereitliegenden Schiffe dargestellt. Zum Bildaufbau vgl. auch Braun-Niehr (2012b) S. 111–113.

Farbe, mal deckend, mal unter Einbeziehung des Papiergrunds, ist auch eingesetzt, um Plastizität etwa bei Gewändern wiederzugeben. Dasselbe gilt für Schraffuren, sowohl in der Zeichnung als auch in der Ausmalung (vgl. etwa die feinen roten Schraffuren, die für Inkarnat verwendet werden, Domanski [2014] S. 94). Die Figuren stehen außen auf grünem oder braunem Untergrund, innen auf gefliestem Boden; der obere Bildrand ist in der Regel durch einen kleinen Streifen Himmel bzw. ein Gewölbe oder eine Balkendecke begrenzt. Die Personen und ihre Ausstattung (Schwerpunkt auf Pferden, kostbarer und modischer Kleidung sowie Waffen) sind abwechslungsreich gestaltet und in verschiedenen Bewegungen sowie häufig mit ausdrucksstarker Gestik eingefangen. Requisiten werden gezielt funktional eingesetzt; so trägt Kriemhild ihre Krone in Szenen, wo sie politisch und als öffentliche Person agiert (nicht aber im Ehebett, vgl. Thali [2015] S. 253, 255f.). Die Gesichter sind von Rundungen geprägt (Nasen, Kinngrübchen) und weisen eine klare mimische Sprache auf.

Die Bilder greifen auf Buch-, Tafel- und Glasmalerei zurück und übertragen etablierte Ikonografien aus anderem Zusammenhang auf den Nibelungenstoff (Braun-Niehr [2012b] S. 117–122). Deutliche stilistische Parallelen bestehen zur Augsburger Chronik des Sigismund Meisterlin (München, Cgm 213, Nr. 26A.2.7.) bzw. deren Vorlagen von Hektor und Jörg Mülich (zuerst Schneider [1970] S. 47); auch Hektor Mülichs Gestaltung von Marquards von Lindau ›Dekalogerklärung‹ (Gießen, Hs. 813, Nr. 67.3.1.) weist starke Ähnlichkeiten auf. Außerdem gibt es Änlichkeiten zu den Illustrationen der in Augsburg entstandenen Handschriften von Johann Hartliebs Alexanderroman im Münchner Cgm 581 (Nr. 3.3.3.; vgl. Domanski/Krenn [2012] S. 117) und vom Trojaroman des Guido de Columnis im Clm 61 (siehe künftig Einleitung zu Stoffgruppe 130.; vgl. Domanski [2014] S. 99). Nach Braun-Niehr (2012b, S. 117–122) vergleichen sich Tafelmalereien von Lucas Moser und Hans Multscher sowie französische Handschriften, Domanski/Krenn (2012, S. 119) haben außerdem oberitalienische Vorbilder ausgemacht. Seit Wegener (1928) hat die Forschung zunächst Einflüsse des Konrad Witz angenommen, was aber durch die Lokalisierung nach Augsburg als unwahrscheinlich gelten darf (Hornung [1968]; gegen diesen Einfluss auch, mit stilistischen Argumenten, Braun-Niehr [2012b] S. 116f.).

Bildthemen:

Übersicht und Beschreibung aller Bildthemen zuletzt bei Heinzle (2012).

Ein Schwerpunkt der Text-Bild-Forschung liegt auf jenen Bildern, in denen nibelungenliedspezifische Szenen dargestellt sind. Dazu gehören Kriemhilds Falkentraum (3r), Siegfrieds Ermordung (58v), Kriemhild findet Siegfrieds Leiche (64r), der Hort wird nach Worms gebracht (71r) oder Kriemhild tötet Hagen (158v). Das Bildprogramm der Handschrift hat allerdings auffällig wenige solcher Ikonografien ausgebildet. So fehlen etwa Darstellungen zu Gunthers Brautnächten mit Brünhild oder zum Streit der Königinnen (dieser hat zwar auf 51v ein Bild bekommen, als Streit lässt sich die dargestellte Redesituation aber nur mit Textkenntnis deuten). Die Brautwerbung um Brünhild ist lediglich mit zwei Ankunftsszenen illustriert, nicht etwa mit dem Steigbügeldienst oder dem Wettkampf. Thali (2015, S. 248) hat diese Tatsache überzeugend als bewusste Abweichung vom Text gedeutet, damit »Siegfried nicht in der untergeordneten Rolle des Werbungshelfers« gezeigt würde. Einleuchtend ist auch ihre Interpretation, dass das Bildprogramm die Geschichte Kriemhilds ins Zentrum stellen wollte und deswegen die Brünhild-Szenen zurückgenommen sind (S. 250).

Unabhängig von solchen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen bleibt der Befund, dass die Bilder eine Vorliebe für höfische Standardsituationen zeigen. Laut Janz (1998, S. 432) machen Empfangs- und Abschiedsdarstellungen zusammen mehr als die Hälfte der Bilder aus, ebenfalls wichtig sind Streit und Kampf sowie Unterredung und Beratung. Die Vorliebe der Bilder für zeremonielle Situationen entspricht derjenigen des Textes. So sind gerade Szenen der Interaktion durchaus nibelungenspezifisch: der Streit der Königinnen (Gespräch, 51v), der Beschluss, Siegfried zu töten (Unterredung, 56r), Hagen und Gunther verweigern Kriemhild die Ehre (Gruß, 115v). Die Bedeutung höfischer Standardsituationen lässt sich auch an den Überschriften zu den Aventiuren ablesen. Diese fungieren hier wie Tituli und haben wohl die Bildthemen bestimmt.

Nur auf 122r folgt das Bildthema (Turnierszene) gar nicht der Überschrift (wie sy des morgens ze dem múnster giengen; vgl. auch die Ausführungen zum Überschrift-Bild-Verhältnis bei Thali [2015] S. 258). Braun-Niehr (2012b, S. 107–109) geht von zusätzlichen, verlorenen Maleranweisungen aus, weil an den Bildern eine gute, über die Überschriften hinausgehende, aber nicht lückenlose Textkenntnis deutlich wird.

In mancher Hinsicht hat der Illustrator eine vom Text abweichende Gewichtung vorgenommen. Ob die Darstellung Kriemhilds als positiv gesehen werden kann (Händl [2011]) ist fraglich, mit Thali (2015, S. 252, 261–263) ist sie eher als ambivalent einzuordnen. Jedenfalls stellen die Bilder sie und Hagen als Gegenspieler ins Zentrum und betonen die zentrale Rolle beider für das Geschehen. Dies gilt etwa für das letzte Bild (158v), das Kriemhild mit Gunthers Kopf zeigt; indem die Judith-Ikonografie evoziert wird, bekommt Kriemhild im Bild eine aktivere Rolle als im Text (dort gibt sie den Mord an Gunther nur in Auftrag, führt ihn aber nicht selbst aus, vgl. Domanski/Krenn [2012] S. 121).

Die dargestellten Standardsituationen haben ebenso wie die Bedeutung repräsentativer Ausstattung eine Entsprechung im Text, der einerseits entlang höfischer Interaktionen erzählt ist und diese auch in den Aventiurenüberschriften benennt (Empfang oder Abreise, Werbung, Gespräch, Kampf) und der sich andererseits den Raum für die Schilderung von Prunk nimmt (vgl. die sogenannten Schneiderstrophen). Auch die von der Forschung mitunter als geschmacklos empfundenen Bilder des zweiten Teils (die Burgunden werfen die Toten aus dem Saal, 133r) haben eine Entsprechung in der Brutalität und Schonungslosigkeit, mit der der Text den Untergang der Burgunden erzählt.

Faksimile:

Hornung (1968) [nur die Bildseiten]; Der Hundeshagensche Codex (2012).

Weitere Materialien im Internet:

Handschriftencensus

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Abb. 176.
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Abb. 177.