Das früh- und hochmittelalterliche Memorialwesen, so wie es sich in seinen unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen darstellt, ist ein umfassendes religiöses, soziales und historisches Phänomen. Unabhängig von seinen sakralen oder profanen Kontexten ist es geprägt von der Vorstellung, dass lebende und verstorbene Menschen eine Gemeinschaft bilden. Eine wesentliche Maxime dieser Gemeinschaft war das aus der Antike übernommene do-ut-des-Prinzip. Oblag den Lebenden die Fürsorge für die Toten, so erwartete man von diesen die Fürsprache vor Gott. Diese Reziprozität setzte jedoch nicht erst nach dem Tode ein, sondern wurde bereits zu Lebzeiten initiiert. Durch unterschiedlichste Gaben, Schenkungen und Stiftungen versicherten die Menschen sich der Gebete nach ihrem Tod. Mehr noch, es galt, die Gemeinschaft der Lebenden und Toten stets aufs Neue herzustellen und zu erhalten, also die Toten zu vergegenwärtigen. Memoria, wie sie im abendländischen Christentum verstanden wurde, ist damit zum einen Erinnerung, ein kognitiver Akt, und zum anderen Gedächtnis, menschliches Handeln. Jedwedes Kollektiv, gleich ob religiös oder profan, wurde im Gedenken an die Verstorbenen zu einer speziell konnotierten Gemeinschaft, zur Memorialgemeinschaft. Vollzogen wurde die memoria zunächst im sakralen und liturgischen, später auch im weltlichen Rahmen durch Aufzeichnung der Namen in Necrologen (Untergruppe 90a.1.) und in Bruderschaftsbüchern (Untergruppen 90a.2. und 90a.3.). Ein dem Text beigestelltes Memorialbild wird dabei nicht durch die Form oder den Inhalt definiert, sondern durch seine Funktion im Kontext der memoria (vgl. Oexle [1983] S. 47). Bei einem Bild, das im Kontext der memoria wirksam wird, muss es sich nicht zwangsläufig um das Bild eines Menschen handeln (vgl. Oexle [1982]; Oexle [1984]). Auch ein für eine Kommunität bedeutsames Geschehen konnte im Bild gezeigt und durch das Bild immer wieder abgerufen werden. In der Stoffgruppe Memorialschrifttum sind illustrierte Handschriften gesammelt, in denen Memorialbilder in diesem Sinn erkennbar sind. Während in dem bislang erforschten mittelalterlichen Memorialwesen der Fokus auf die Vergegenwärtigung der Verstorbenen, evoziert durch die Verlesung der Namen (Berger [1965]; Oexle [1984] S. 308), gelegt wurde, entsteht die memoriale Konnotation in diesen Handschriften erst durch Interdependenz von Text und Bild. Die Memorialgemeinschaften konnten sich in ihrem kommunikativen Handeln auf die Bilder beziehen. Während die früh- und hochmittelalterlichen Necrologe reine Namenslisten waren, wenngleich nicht ohne Bildschmuck, so doch ohne Bilder, treten bei den in dieser Stoffgruppe erfassten Necrologen die Illustrationen gleichberechtigt neben den Text. Man könnte sich das eine ohne das andere vorstellen und erhielte dennoch die erforderlichen Informationen. Jedoch wird es erst durch die Verschränkung von Text und Bild möglich, historische memoria und Gedenken an bestimmte Personen zu vereinen. Der Blick auf die Bruderschaftsbücher, im häufig weltlichen Kontext entstandene Zeugnisse von memoria, zeigt deutliche Abweichungen. Der Text – meist Statuten und Mitgliederlisten – bringt die Intention zum Ausdruck: Durch ihn vergewissert die Gemeinschaft sich ihrer selbst. Es wäre nicht zwingend notwendig, ein Bild hinzuzufügen, und in vielen Fällen geschah das auch nicht. Dort aber, wo von der Norm abgewichen und eine Illustration eingefügt wurde, ist eine Gemeinschaft in ihrer Besonderheit zu erkennen. Die Bilder werden zu integrativen Elementen eines Kollektivs über eine längere Dauer. Nur in der Interaktion von Text und Bild, bei mitunter durchaus unterschiedlicher Gewichtung, wird dann aus einer beliebigen Gemeinschaft eine spezielle Memorialgemeinschaft. Es muss davon ausgegangen werden, dass in der Stoffgruppe bei weitem nicht alle derartigen Zeugnisse präsentiert werden können, denn häufig befinden sich entsprechende Handschriften nach unentdeckt in Archiven. Die Erfassung von Namen in Listen, die sowohl für Necrologe als auch für Bruderschaftsbücher konstitutiv sind, stellt eine Nähe zu Verwaltungsschriften und Inventaren her, die eben meist in Archiven, oft unerfasst, aufbewahrt werden.