KdiH

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85.2.1. Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Ms. Berol. germ. oct. 109

Bearbeitet von Wolfgang Augustyn

KdiH-Band 9

Datierung:

Um 1220 (1. Viertel 13. Jahrhundert: Schneider [1987] S. 83; 1230: Messerer [1979] S. 447).

Lokalisierung:

Regensburg oder Umkreis (Klemm [1987] S. 58; Radaj [2001] S. 11; Scheyern [?]: Henkel [1989] S. 44; Niederbayern: Wegener [1928] S. 4).

Besitzgeschichte:

Die Handschrift stammt wohl aus dem Besitz von Raymund Krafft von Dellmensingen (1663–1729), Bürgermeister in Ulm (Graf [2012a]). Beim Verkauf seiner Handschriften 1739 gelangte sie an Heinrich Christian von Senckenberg (1704–1768). Der Hinweis auf den Straßburger Juristen Johannes Schilter (1632–1705) als Vorbesitzer (so Oetter [1802] S. V) steht dazu im Widerspruch. Nach Senckenbergs Tod kam die Handschrift in den Besitz des Pfarrers und Historikers Samuel Wilhelm Oetter (1720–1792), dessen Sohn Friedrich Wilhelm (1754–1824) die Sammlung erbte. Von ihm erwarb sie der Geheime Staatsrat und Generalpostmeister Carl Ferdinand Friedrich von Nagler (1770–1846; 1r: Stempel v. N.), dessen Handschriften 1835 von der Königlichen Bibliothek zu Berlin übernommen wurden; dabei erhielt die Handschrift eine Erwerbungsnummer (1r: Cat. doc. 778; ferner Stempel Ex Biblioth. Regia Berolinensi). Später erhielt der Codex die Berliner Signatur (1v: ms. germ. Octav. 109). Verschiedene Einträge aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert auf einem Doppelblatt aus Papier am Ende der Handschrift verweisen auf Senckenberg als Vorbesitzer und verschiedene Benutzer (Radaj [2001] S. 16f.). Mit anderen Beständen der Staatsbibliothek wurde der Codex von September 1942 bis Januar 1944 im Kloster Grüssau in Schlesien ausgelagert und 1945/1946 nach Krakau verbracht.

Inhalt:
1v– 91v Priester Wernher, ›Driu liet von der maget‹
Bearbeitung des 1172 verfassten Textes (Wesle [1927]; Wesle/Fromm [1969]) mit Textverlust am Ende: Gärtner (1999) Sp. 906
I. Kodikologische Beschreibung:

Pergament, I + 91 + II (Papier) + I Blätter, ca. 164 × 115 mm, frühgotische kalligrafische Buchschrift des 13. Jahrhunderts von einer Hand mit Einfügungen und Verbesserungen von mindestens zwei Händen des 15. Jahrhunderts (44v, 56v, 59v, 63r: Schneider [1987]), die Texte der Spruchbänder und andere Beischriften in früher Kursive von mehreren (sechs?) Händen aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts, einspaltig, 22–23 Zeilen, am Beginn der drei Lieder sechszeilige Spaltleisten-Initialen in Rot (50r) und Schwarz (2v, mit Blau und Grün: 23v), vierzeilige rote Initiale (5v), zahlreiche zweizeilige Lombarden, adiastematische Neumen (71v).

Schreibsprache:

bairisch, nicht südbairisch-österreichisch (Schneider [1987] S. 83).

II. Bildausstattung:

85 Federzeichnungen in schwarzer, brauner und roter Tinte, zwei ganzseitige Miniaturen am Beginn des Codex.

Format und Anordnung:

Mit Ausnahme der beiden einander gegenüberstehenden, ganzseitigen Bilder 1v und 2r sind alle Illustrationen dem Text eingefügt. Sie nehmen die Hälfte des Schriftspiegels oben oder unten in seiner ganzen Breite ein, nur die Bilder auf 6r, 6v und 7v sind geringfügig höher.

Bildaufbau und -ausführung:

Figurenstil und Rankenschmuck: Die Zeichnungen zeigen Merkmale des frühen Zackenstils.

Die »theologisch-poetischen Reflexionen und gebethaften Stellen« (Messerer [1979] S. 459) sind nicht illustriert, nur diejenigen Textstellen, in denen Handlung erzählt wird (ausgenommen die Bilder auf 1v und 2r). Oftmals werden die Personen einander gegenübergestellt und illustrieren Dialoge. Viele Ereignisse werden nicht synchron in einem Bild geschildert, sondern auf mehrere Bilder verteilt (z. B. der Aufenthalt Mariens im Tempel, die Ereignisse um die Geburt Christi in acht Bildern).

Die Akteure sind in schwarzen und roten Federzeichnungen ganzfigurig vor einem in Deckfarben gehaltenen Grund (blau, manchmal karminrot, Rahmen grün) ohne Boden wiedergegeben und sind dicht gruppiert. Häufig wurden statt der detaillierten Binnenzeichnung Gewandfalten farbig laviert oder ganze Gewandpartien (1v, 2r) und Landschaftsmotive (Hecke: 12v) flächig farbig laviert. Der häufig von Figuren oder Körperteilen überschnittene Bildrahmen ist gegenständig teilweise golden, teilweise silbern ausgeführt; auch architektonische Motive (29v), Gegenstände aus Metall (Münzen 7v, Waffen 2r, 9v u. ö.; Weihrauchfass: 33r) oder Nimben sind flächig goldfarben (Christus, meistens mit weißem Kreuz; Maria, Engel; Josef nur ein einziges Mal, bei der Beschneidung 78r) oder silbern (Elisabeth). Die Personen sind schlank und oft durch Bart- und Haartracht individuell charakterisiert. Mund und Wangen sind regelmäßig durch rote Striche oder Flächen angezeigt, manchmal ist die verschattete Gesichtshälfte im Viertelprofil dunkler abgetönt (54r, 78r). Affekte werden durch entsprechende Handgebärden angezeigt, seltener durch die Mimik (63v, 77r, 88r) oder sogar durch die Anordnung der Gewandfalten (88r, 89r). Diesem Zweck dienen oft auch die Spruchbänder, die »gebärdenhaft« (Messerer [1979] S. 450 u. ö.) den Inhalt kommentieren und nicht nur den Sprechenden zugeordnet sein können, sondern manchmal durch ihre Anordnung mehrere Adressaten zusammenfassen und diese als zusammengehörige Gruppe kenntlich machen (ebd.). Sie korrespondieren mit der Handlung häufig durch ihre Anordnung (etwa wenn Abiathar ein Gebet zum Himmel richtet und das zugehörige Spruchband vertikal nach oben gerichtet ist: 31v). Die Spruchbänder nehmen durch Form und Verlauf auf den Inhalt des Bildes Bezug und sind dafür gelegentlich sogar im spitzen Winkel geknickt (33r, 40v).

Bildthemen:

Die Bilder illustrieren den Text, der in driu liet das Leben Mariens darstellt und drei hohen Kirchenfesten zugeordnet ist, Mariä Geburt, Mariä Verkündigung und Weihnachten mit der Geburt Jesu. Während die beiden ersten Bilder (1v Wurzel Jesse, 2r Urteil Salomos: Ziegeler [2017]) sich nicht auf die Dichtung Wernhers beziehen, entsprechen die übrigen Darstellungen dem Text, der vor allem auf biblischen und apokryphen Quellen (Ps.-Matthäus-Evangelium: Gijsel [1978]; Gijsel [1981]) beruht.

Erstes Lied: 6r Jakobs Traum von der Himmelsleiter, 6v Jakob ringt mit dem Engel, 7v Joachim teilt seinen Besitz in drei gleiche Teile (Ps.-Mt 1), 8v Vermählung von Joachim und Anna (Ps.-Mt 1), 9v Ruben weist Joachim und seine Opfergabe zurück (Ps.-Mt 2), 10v Joachim reitet in die Wüste (Ps.-Mt 2), 12v ein Engel verkündet Anna die Geburt Mariens (Ps.-Mt 2), 14r die Magd kündigt Anna den Dienst auf (Ps.-Mt 2), 15r der als Knecht verkleidete Engel fordert Joachim zur Rückkehr auf (Ps.-Mt 3), 16r der Engel fordert Joachim auf, Gott ein Opfer zu bringen (Ps.-Mt 3), 17r Joachim opfert ein Lamm (Ps.-Mt 3), 18r der Engel erscheint Joachim im Traum (Ps.-Mt 3), 19v Anna begrüßt Joachim bei seiner Rückkehr (Ps.-Mt 3), 20v Geburt Mariens (Ps.-Mt 4), 21v Joachim und Anna führen Maria in den Tempel zur Weihe (Ps.-Mt 4; zu Bildmotiven, die auf das ›Protoevangelium Jacobi‹ hinweisen: Radaj [2001] S. 36).

Zweites Lied: 24v Maria arbeitet im Tempel mit anderen Frauen (Ps.-Mt 6), 25v der Engel bringt Maria das Himmelsbrot (Ps.-Mt 6), 27r Maria heilt Kranke (Ps.-Mt 6), 28r Priester versuchen, Maria zur Ehe mit Abiathars Sohn zu überreden (Ps.-Mt 7), 29v Bischof Abiathar fragt die Versammelten, wie sie das Verhalten Mariens einschätzen (Ps.-Mt 8), 31r Josef und seine Mitbewerber übergeben Abiathar ihre Gerten (Ps.-Mt 8), 31v Abiathar bittet um ein Zeichen Gottes (Ps.-Mt 8), 33r der Engel erscheint Abiathar (Ps.-Mt 8), 34r die aus der Gerte Josefs fliegende Taube erweist diesen als von Gott auserwählten Bewerber um Maria (Ps.-Mt 8), 36r Abiathar verkündet Maria das von Gott gesandte Zeichen, 37v Verlobung Josefs mit Maria (Ps.-Mt 8), 38v Maria und zwei Gefährtinnen verabschieden sich von den übrigen Frauen, 39v Josef verabschiedet sich von Maria (Ps.-Mt 10), 40r Die Hohenpriester schicken Maria und den Frauen durch einen Boten (frowe diz sidin gewant. habent iv templi pontifices gesant) Stoffe zur Anfertigung eines Tempelvorhangs (sie santen den edeln wiben. purpuram und siden …; Ps.-Mt 8), 40v Maria und die Frauen verlosen die Arbeit (Ps.-Mt 8), 41v die durch den Zorn des Engels eingeschüchterten Frauen, die diesen verspottet hatten, bitten Maria um Verzeihung (Ps.-Mt 8), 42v der Engel verbirgt sein Gesicht vor Maria (Ps.-Mt 9), 43v Verkündigung (Ps.-Mt 9; Lc 1,26–38), 47r Heimsuchung (Lc 1,39–45).

Drittes Lied: 50v Josef verabschiedet sich von den Zimmerleuten (Ps.-Mt 10), 51v die Frauen versichern Josef Mariens Unschuld (Ps.-Mt 10), 53r der Engel erscheint Josef (Ps.-Mt 11), 54r Josef bittet Maria um Verzeihung (Ps.-Mt 11), 55r die Juden nehmen Maria und Josef in Haft, um sie anzuklagen (Ps.-Mt 12), 56r Maria und Josef vor Gericht (Ps.-Mt 12), 57r Josef beweist seine Unschuld durch die Wasserprobe (Ps.-Mt 12), 58r der Hohepriester (bisgof) befragt Maria (Ps.-Mt 12), 59r Maria beweist ihre Unschuld durch die Wasserprobe (Ps.-Mt 12), 60r Kaiser Augustus erlässt das Zinsgebot (Ps.-Mt 13; Lc 2,1), 60v Landgraf Cyrin lässt Zinsbücher anlegen (Ps.-Mt 13), 61v die wegen des dauerhaften Friedens nicht mehr gebrauchten Waffen werden umgeschmiedet, 63r Maria und Josef brechen nach Bethlehem auf (Ps.-Mt 13; Lc 2, 4f.), 63v Mariens Erscheinung der Traurigen (... ein uolch vnt ein schar. diu chom uil truriklichen dar. die wnden die hende. in isinine gebende. waren sie geslozzen. mit zæheren begozzen. sie chlageten unmazze ... 63r–v; Ps.-Mt 13), 64r Mariens Erscheinung der sich Freuenden (Ps.-Mt 13), 64v der schöne Jüngling erklärt Josef die Bedeutung der beiden Erscheinungen, 66r Maria und Josef vor den Mauern von Bethlehem, 67r Geburt Christi (Ps.-Mt 13), 68r Josef fordert Maria auf, die Hebammen zu rufen, die sich vor dem Licht in der Höhle ängstigen (Ps.-Mt 13), 68v die Hebammen kommen zu Maria und dem Kind (Ps.-Mt 13), 69r die Hebammen baden das Neugeborene, 69v die Hebammen huldigen Maria (Ps.-Mt 13), 70r Ochse und Esel fallen vor dem Kind auf die Knie (Ps.-Mt 14), 71r der Engel verkündet den Hirten die Geburt Christi (Ps.-Mt 13; Lc 2,8–14), 72r die Hirten beten das Kind an (Lc 2, 15–20), 73v ein goldener Ring um die Sonne erscheint, 74r in Rom entspringt eine Ölquelle, 75r das Standbild des Mars stürzt und zerbricht, 75v der Kaiser ordnet Frieden an, 76v auf seinen Befehl werden die Gefangenen freigelassen, 77r die entlaufenen Sklaven werden enthauptet, 78r Beschneidung Christi (Ps.-Mt 15; Lc 2, 21), 79r die drei Könige sehen den Stern am Himmel (Ps.-Mt 16), 79v Herodes empfängt die Könige (Ps.-Mt 16), 80v Herodes befragt die Schriftgelehrten nach dem Geburtsort Christi (Ps.-Mt 16, Mt 2,3–6), 81r Herodes bittet die Könige, ihn über den Ort zu benachrichtigen, an dem sich Christus aufhält (Ps.-Mt 16; Mt 2,7), 82r die Könige bringen dem Kind ihre Gaben dar (Ps.-Mt 16, Mt 2,10f.), 82v der Engel warnt die Könige (Ps.-Mt 16; Mt 2,12), 83r die Könige verabschieden sich von Maria und dem Kind (Ps.-Mt 16), 83v Darbringung Jesu im Tempel (Ps.-Mt 15; Lc 2, 22–35), 85r Herodes hält Rat, um Jesus zu töten (Ps.-Mt 16; Mt 2,16), 85v der Engel erscheint dem schlafenden Josef und rät ihm zur Flucht (Ps.-Mt 17; Mt 2,13), 86r Flucht nach Ägypten (Ps.-Mt 17; Mt 2,14), 87r Bethlehemitischer Kindermord (Ps.-Mt 17; Mt 2,16), 88r die Mütter klagen über den Tod ihrer Kinder (Mt 2,17–18), 88v Herodes wird krank, 89r Selbstmord des Herodes, 89v der Engel fordert Josef zur Rückkehr auf (Ps.-Mt 25; Mt 2,19f.), 90r Josef kehrt mit Maria und Jesus aus Ägypten zurück (Mt 2,21–23).

Farben:

Blau, Grün, Rot, Braun sowie Gold und Silber.

Faksimile:

Radaj (2001).

Weitere Materialien im Internet:

Handschriftencensus

Abb. 2: 68r. Josef fordert Maria auf, die Hebammen zu rufen, die sich vor dem Licht in der Höhle ängstigen.

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Abb. 2.