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8. Aristoteles und Phyllis

Bearbeitet von Norbert H. Ott

KdiH-Band 1

Der von einer Dame als Reittier benutzte Philosoph Aristoteles, eine der vielen Variationen des Themas «Verkehrte Welt», war, wie zahlreiche andere Darstellungen von Minnesklaven und Weiberlisten, in der Bildkunst vor allem des Spätmittelalters weit verbreitet: Beispiele der Verführbarkeit der Männer durch die Macht der Frauen aus biblischer und antiker, mittelalterlich überformter Stofftradition – Adam und Eva, Samson und Delila, Salomons Götzendienst, Judith und Holofernes, David und Bathseba, Vergil im Korb, auch Artus, von Ginover und Lancelot betrogen, oder die Baumgartenszene des ›Tristan‹ – wurden, oft zyklisch gereiht, in der Textilkunst, auf Fresken, in Plastiken, besonders häufig aber in Zeichnungen und Druckgraphiken dargestellt.

Das wohl am weitesten verbreitete dieser Minne-Exempel ist die Aristoteles-und-Phyllis-Gruppe. Weit über hundert Objekte des Bildtyps sind überliefert, auf Kapitellen und Chorgestühlschnitzereien, auf höfischen Gebrauchsartikeln, wie Elfenbeinkästchen, Kämmen, Messergriffen und Brettsteinen, auf Teppichen, Fresken und Cassoni-Malereien. Gut ein Drittel dieser Zeugnisse gehört der Graphik des späten 15. und des 16. Jahrhunderts an: Zeichnungen, Holzschnitte und Kupferstiche des Hausbuchmeisters und Schongauers, Schäufeleins, Brosamers, Baldung Griens, von Peter Flötner, Burgkmair, Holbein, Lukas von Leyden und vielen anderen. Nur selten aber ist das Motiv in Handschriftenillustrationen realisiert worden – auch die kolorierte Federzeichnung im Augsburger 4o Cod. H. 27 ist – als eingeklebtes Blatt – eine »sekundäre« Illustration. Ebenfalls eher einzelgängerisch sind zwei weitere Beispiele des Bildtyps aus deutschsprachigen Handschriften: In der enzyklopädischen Sammlung in Washington, The Library of Congress, Rosenwald Collection, Ms. 4 (olim Ms. 3) (siehe Nr. 49a.2.1.) ist der von Phyllis gerittene Aristoteles auf Bl. 6v eine von fünfzehn Einzelszenen mit Minnesklaven, die einen Ps.-Frauenlob-Spruch (Heinrichs von Meissen des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Erläutert u. hrsg. von Ludwig Ettmüller. Quedlinburg/Leipzig 1843 [Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 16]. Nachdruck Amsterdam 1966, Nr. 141) illustrieren, der zusammen mit weiteren bildlichen Darstellungen auf Bl. 8r des Codex überliefert ist. Die Handschrift von Heinrichs von München Weltchronik in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 7377, in die auch Passagen aus Ulrichs von Etzenbach ›Alexandreis‹ inseriert sind (siehe Nr. 3.2.3.), enthält den Bildtyp als Illustration von Ulrichs Version des Motivs: Alexander der Große beobachtet seinen Lehrer, der hier den Namen Aristander trägt, dabei, wie er der indischen Königin Candace als Reittier dient (213vbc).

4o Cod. H. 27 der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek, der als letztes Stück das Fastnachtspiel vom ›Meister Aristoteles‹ tradiert, dem als Titelminiatur die Federzeichnung des gerittenen Aristoteles vorausgeht, ist aus mehreren unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt. Um 1520 hatte der literarisch interessierte Augsburger Kaufmann Klaus Spaun an verschiedenen Orten entstandene Faszikel, hauptsächlich mit Fastnachtspielen, durch eigene umfangreiche Beiträge (meist Kleintexte, wie Sprüche, Priamel, Sentenzen und Weisheiten) zu zwei Handschriften zusammengefügt: den Augsburger Codex und Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 18.12 Aug. 4o. In die Augsburger Handschrift wurden dabei – in einem der kompilatorischen Zusammenstellung der gesamten Handschrift vergleichbaren Verfahren – aus verschiedensten Drucken ausgeschnittene und kolorierte Holzschnitte und die Aristoteles-Phyllis-Federzeichnung eingeklebt; viele Texte hat Spaun aus den Drucken, denen die Holzschnitte entnommen sind, abgeschrieben. Auch bei anderen Codices, die Spaun – wohl für den Eigengebrauch – schrieb bzw. zusammenstellte, ist er ähnlich vorgegangen: der 4o Cod. 264 der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek enthält Abschriften aus Drucken; in die Handschriften Ink. Nr. 73 und Ink. Nr. 128 des Kestner-Museums Hannover (siehe Nr. 10.0.a.) und in den Münchener Cgm 407 wurden ebenfalls aus Drucken ausgeschnittene Holzschnitte geklebt (vgl. dazu Kiepe [1984] S. 184–188).

In der Art der nachträglichen Funktionalisierung als Textillustration kommt der Aristoteles-Zeichnung im Augsburger 4o Cod. H. 27 keine Sonderstellung gegenüber den eingeklebten Drucken zu: Wie diese ist sie ursprünglich nicht für den handschriftlichen Kontext bestimmt gewesen. Ihr einstiger Gebrauch jedoch kann, anders als bei den Holzschnitten, nur vermutet werden. So könnte das Blatt eine autonome, in keinerlei illustrativem Zusammenhang stehende Zeichnung gewesen sein, vielleicht gar Teil einer Serie von Weiberlisten-Darstellungen, wie sie aus der Druckgraphik bekannt sind. Auch die Funktion als Vorlage für eine(n) Druck(-Folge) ist denkbar, ebenso aber, daß umgekehrt die Zeichnung selbst Kopie einer (verlorenen) Druckgraphik ist. Die Wechselwirkungen zwischen Bildern und Texten, z. T. durch nachträgliche Bezüge erst hergestellt, sind vor allem im Spätmittelalter jedenfalls äußerst vielschichtig, wie gerade das Aristoteles-und-Phyllis-Motiv zeigt. So hat auch die Vermutung, der Aristoteles-Kupferstich des Hausbuchmeisters (Lehrs 1 [1908] 54, 2 [1910] 57) von ca. 1485 sei angeregt worden durch das Aristotelesspiel, das die Augsburger Handschrift überliefert – wäre also gewissermaßen eine Art »textabgelöster« Illustration –, einiges für sich. (Vgl. Vom Leben im späten Mittelalter. Der Hausbuchmeister oder Meister des Amsterdamer Kabinetts. [Ausstellungskatalog]. Rijksmuseum Amsterdam. Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt a. M. 1985, Nr. 54 S. 132f.) Auf diesem Stich nämlich verfolgen zwei Herren, über eine Mauer gelehnt, das bekannte Geschehen. Wenn der jüngere der beiden nicht Alexander sein soll – wer sonst, wenn nicht sein Lehrer Aristoteles selbst, könnte dann der ältere Begleiter sein? –, liegt es nahe, die beiden Gestalten mit dem Schreiber des Aristoteles und dem (namenlosen) König zu identifizieren, die im Spiel vom ›Meister Aristoteles‹ dem Treiben des Philosophen und der Königin, die hier Seltenrayn heißt, kommentierend zuschauen.

Der Kupferstich des Hausbuchmeisters als nicht zur Illustration bestimmte, aber von einer spezifischen Textfassung abhängige Reproduktionsgraphik auf der einen Seite, in der Augsburger Handschrift die autonome, erst durch nachträgliche Einfügung in einen Textzusammenhang zur Illustration »umfunktionierte« Zeichnung auf der anderen: dies markiert sehr eindrucksvoll die Breite der Möglichkeiten, in denen sich, zumal im Spätmittelalter, Texte und Bilder wechselseitig aufeinander beziehen.

Literatur zu den Illustrationen:

Raymond van Marle: Iconographie de l’Art profane au Moyen-Âge et à la Renaissance et la Décoration des Demeures. Bd. 2. La Haye 1932, S. 415–496. – Friedrich Maurer: Der Topos von den »Minnesklaven«. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter. DVjs 27 (1953), S. 182–206. – Wolfgang Stammler: Der Philosoph als Liebhaber. In: W. S., Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter. Berlin 1962, S. 12–44. – Norbert H. Ott: Minne oder amor carnalis? Zur Funktion der Minnesklaven-Darstellungen in mittelalterlicher Kunst. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett, William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 107–125.