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45. Genealogie

Bearbeitet von Peter Schmidt

KdiH-Band 6

Genealogie ist als grundlegende kulturelle Ordnungsform beschrieben worden. Sie sicherte in allen Gesellschaften den sozialen Gruppen, die sich als Abstammungsgemeinschaften verstanden, Stabilität und Kontinuität. Im europäischen Mittelalter ist Abstammung ein zentrales Argumentationsmuster zur Begründung von Herrschaft und Rechtsbeziehungen. Von Fürstenhäusern initiierte Historiographie wird deshalb seit dem 12. Jahrhundert immer stärker zur Erforschung beziehungsweise Konstruktion der Linie der Vorfahren und Vorgänger. Öffentliche Monumente wie Skulpturen- und Freskenzyklen dienten dazu, solch politisch relevante Argumente zu verbreiten; deren visuelle Methoden waren besonders geeignet, tatsächliche Diskontinuitäten zu glätten und in geschlossenen Bildsystemen bruchlose Traditionen zu behaupten.

Im Medium der Handschrift sind genealogische Programme zunächst an historiograpische Werke gebunden. Stammbäume, die in ihrer Basisform nur aus durch Linien verbundenen Kreisen mit Namen bestehen, haben in den meisten dieser Werke rein diagrammatischen Charakter. Ihr Anspruch ist kein bildlicher; vielmehr bereiten die Liniensysteme genealogische Listen visuell auf und vermögen so Beziehungsgeflechte verständlicher zu machen. Reine Diagrammatik ohne figürliche Elemente ist im vorliegenden Katalog – auch bei der Stoffgruppe 26. Chroniken, die sich eng mit den Genealogien berührt – ausgeschlossen worden. Das hat sich bewährt, um ein Corpus von Handschriften und Drucken mit vergleichbaren und untereinander korrespondierenden Bildfunktionen zu bilden. Da Wappen im Rahmen von Stammbäumen in der Regel nur als Erweiterung der Namensnennung bei Kreis-Linien-Diagrammen auftauchen und kein eigenes bildliches Argumentationsmuster ausbilden, sind Zeugnisse dieser Art aus Gründen der Kohärenz hier ebenfalls ausgeschlossen worden, so auch die ›Regententafel von Hessen und Thüringen‹ (Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 238; zum Kontext vgl. Stoffgruppe 26A.29.).

Eine besondere Herausforderung in Hinblick auf die Abgrenzung des in die Stoffgruppe Genealogie aufzunehmenden Materials stellt die chronologische Entwicklung dieses Typs von Text-Bild-Kombinationen dar. Während nämlich figürlich illustrierte Genealogien von Fürstengeschlechtern in der lateinischen Tradition bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen – wenngleich auch hier nicht in sehr großer Zahl als selbständige Handschriften überliefert –, wird das Phänomen in deutschsprachigen Handschriften erst ab dem späten 15. Jahrhundert sichtbar. Mit guten Gründen hat man deshalb die volkssprachlichen Genealogien als ein im wesentlichen neuzeitliches Phänomen beschrieben, dessen Wurzeln nur in die neuen Bemühungen um fürstliche Erinnerungskultur und Historiographie in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts zurückreichen (zusammenfassend Klaus Graf / Gerrit Walther, ›Genealogie‹. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hrsg. von Friedrich Jäger. Stuttgart 2006, Bd. 4, Sp. 425–431).

Dieser Befund wirft nun im Kontext eines Katalogs mittelalterlicher Handschriften die Frage nach der pragmatischen Handhabung der Epochengrenze in ganz besonderer Weise auf. Nach der Sichtung des relevanten Materials hat sich eine Grenze »um 1500« als am besten begründbar erwiesen. Das Material, das so zusammengeschlossen werden konnte, bildet die Konsequenzen der neuen historiographischen Versuche und der fürstlichen Erinnerungskultur der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für die bebilderte Genealogie in der Volkssprache ab. Zwischen diesem Zeitpunkt und den späten 1520er Jahren gibt es eine auffällige Lücke der Überlieferung. Dann erst steigt die Produktion deutschsprachiger bebilderter Genealogien steil an, um sehr bald eine kaum mehr überschaubare Flut von Handschriften hervorzubringen: Um diese Zeit beginnt etwa Matthäus von Pappenheim mit seiner Arbeit an der Chronik der Truchsessen von Waldburg, von der mehrere mit einer Ahnenreihe in Holzschnitten Hans Burgkmairs d. Ä. illustrierte Handschriften existieren; 1526 datiert ist die genealogische Handschrift der Herzöge von Mecklenburg, die in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrfach kopiert wird (Schwerin, Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, Fürstenhaus 161). In den 1540er Jahren setzt bereits die Rezeption der frühen Handschriften des ausgehenden 15. Jahrhunderts im Sinne einer Pflege »alter« Dokumente des Herkommens ein.

Das Problem, dass allenfalls die Anfänge eines sich erst in der Neuzeit entfaltenden Phänomens in den Erfassungszeitraum des vorliegenden Katalogs fallen, betrifft auch die bebilderten bürgerlichen Geschlechterbücher. Nachdem die ersten Zeugnisse stadtbürgerlicher Familienforschung ins 14. Jahrhundert zurückgehen, lassen – mit Schwerpunkten in Nürnberg und Augsburg – patrizische Familien im Laufe des 16. Jahrhunderts solche oftmals als »Familienbücher« bezeichneten Gedächtniscodices auch mit bildlicher Ausstattung anfertigen. Die älteste illustrierte Handschrift ist das ›Lazarus Holzschuher-Buch‹, 1509 begonnen (Nürnberg, Stadtarchiv, E49/III). Das chronologisch nächste erhaltene Zeugnis ist das 1526 datierte ›Pfinzing-Löffelholz-Buch‹ (Nürnberg, Stadtarchiv, E17/I Nr. 3), und einen sprunghaften Anstieg der Produktion sehen auch auf diesem Gebiet erst die folgenden Jahrzehnte (eine Liste der Handschriften bei Hartmut Bock: Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Frankfurt a. M. 2001, S. 479–483). Aufgrund dieses Befundes ist das illustrierte bürgerliche Geschlechterbuch nicht als ein mittelalterlicher Typus anzusprechen.

Die in den Text-Bild-Systemen des hier zu behandelnden Raums und Zeitabschnitts sichtbare Praxis zeigt, dass Genealogie nicht im Wortsinn auf die Repräsentation von familiären Abstammungsverhältnissen zu verengen ist. Ihr Ziel ist nicht allein die Darlegung der aus der Blutslinie abgeleiteten Ansprüche, sondern auch der Kontinuität institutionalisierten Herrschertums. Das Spektrum visueller Repräsentationsschemata stellte dafür verschiedene Argumentationswerkzeuge zu Verfügung. Der Stammbaum veranschaulichte naturgemäß biologische Verhältnisse, während die Herrscherreihe in der Art der Beziehung zwischen den aufeinander folgenden Personen offener sein konnte. Deshalb kann je nach Funktion des Denkmals sowohl eine Dynastie als auch eine Herrschaft oder ein »Haus« – als Geschlecht, Herrschaft und Territorium verbindendes Konzept – den Rahmen einer genealogischen Bilderhand schrift bilden.

In Hinblick auf die Kontexte, in denen solche Codices entstanden, sind naturgemäß zunächst die Fürstenhöfe zu nennen. Das hier versammelte Material zeigt, dass das Phänomen in der Regel im Zusammenhang mit dem zu sehen ist, was man – mit aller Vorsicht gegenüber einem solchem Begriff in jener Zeit – als Landesgeschichtsschreibung bezeichnet hat, die dynastisch strukturiert ist. Die erste und sehr umfangreiche Reihe von Herrscherbildern im Medium einer deutschsprachigen Handschrift ist nicht zufällig zusammen mit der ersten Redaktion und der ältesten Handschrift von Ulrich Füetrers ›Bayerischer Chronik‹ überliefert (Nr. 45.2.3.). Dessen Autor hatte versucht, erstmals eine lückenlose Linie der bayerischen Herrscher bis in die Antike zu zeichnen, was die ältere Chronistik nicht zu leisten vermochte. Dieses Projekt ist charakteristisch für ein in diesen Jahrzehnten neu zu beobachtendes Bemühen, an die Stelle vager Behauptung von altem Herkommen bruchlose Kontinuitäten zu setzen. Um dies im Wortsinn augenfällig zu machen, gewann visuelles Argumentieren neues Gewicht: Lange Herrscherreihen als Ausweis solcher Traditionen sowie Stammbäume als Mittel, schwer verbalisierbare familiäre Zusammenhänge überzeugend darzustellen.

Das Beispiel der mit der Füetrer-Chronik verbundenen bayerischen Fürstenreihe veranschaulicht auch die Wechselwirkungen der Bildmedien und der unterschiedlichen Öffentlichkeiten, in denen sich visuelles Argumentieren mit dem genannten Ziel vollzog. Der Handschrift ging ein ähnlich aufgebauter Wandmalereizyklus mit deutschsprachigen Tituli in der Residenz des Herzogs voraus; Füetrers Werk wiederum, das die Kenntnis der Fresken voraussetzt, bot die Basis für eine inhaltliche Neukonzeption eines formal ähnlichen Bildzyklus in einem anderen Medium, dem der Handschrift. Gleichzeitig aber wurde auch der Freskenzyklus selbst präzise mit Bild und Text in Handschriften kopiert (Nr. 45.2.2.).

Die Codices, die aus solchen genealogischen Projekten an einem Fürstenhof entstanden, konnten Standards setzen, die an anderen Höfen Aufmerksamkeit fanden. Die neuartige Fürstenreihe, die in den 1470er Jahren am Münchner Hof gemalt worden war (Nr. 45.2.1.), muss am sächsischen Hof bekannt gewesen sein, wie die Rezeptionsspuren in der sehr ähnlich aufgebauten Handschrift zeigen, die dort um 1500 begonnen wurde (Nr. 45.5.1.). Auch die genealogischen Projekte, die Kaiser Maximilian I. initiierte und die vor allem mit dem Namen Jakob Mennels verbunden sind, lassen das Wissen um die älteren Projekte erkennen. Aufgrund der besonderen Stellung der genealogischen Handschriften im Kontext von Maximilians Gedechtnus-Projekt werden diese Zeugnisse jedoch in der Stoffgruppe 66. Maximilianea beschrieben.

Neben den Produkten genealogischer Forschung und Konstruktionsarbeit an den Fürstenhöfen selbst fand auch die Professionalisierung der Ahnen- und Wappenkunde in Gestalt der Herolde ihren Niederschlag in illustrierten Codices. Dass in dem hier gesteckten Rahmen nur eine einzige Handschrift – und diese mit nicht zur Ausführung gekommenen Bildern – diesem Bereich zuzuordnen ist (Nr. 45.4.1.), erklärt sich vermutlich durch die spezifische Arbeitsweise der Herolde, die naturgemäß weniger an figürlichen Darstellungen von Fürsten interessiert waren, sondern eher an rein heraldischem Material. Eine Ausnahme bestätigt diese Regel: Die älteste bekannte Handschrift mit einer umfangreichen Folge von Herrscherbildern in Ganzfiguren und volkssprachlichen Erläuterungen, die ›Chronik der Grafen von Holland‹ ( 1456), ist Teil des Arbeitsbuchs des Reichsherolds Hendrik Van Heessel (Antwerpen, Erfgoedbibliotheek Henrik Conscience, B 89420 [C2-554 d]). Ein deutschsprachiges Pendant zu diesem niederländischen Werk existiert jedoch nicht.

Unter den in dem hier versammelten Material sichtbaren Orten, an denen die visuelle Verdeutlichung von Genealogie im Medium des Buches betrieben wurde, sind neben den Fürstenhöfen die Klöster zu nennen, die an die Tradition ihrer Stifter erinnerten. Das empfahl sich aus politischen Gründen, um alte mit einem Herrschergeschlecht verbundene Rechte zu betonen, sowie aus Wallfahrtsinteressen. Letztere sind an dem aufwändigen Genealogie-Projekt des Stifts Klosterneuburg zu studieren (Stoffgruppe 45.1.), und die Welfen-Memoria des Klosters Weingarten brachte nach einer Reihe von lateinischen Zeugnissen am Ende des Mittelalters auch ein deutschsprachiges Prunkwerk hervor (Stoffgruppe 45.6.).

Auffallend ist bei dieser Stoffgruppe die Breite des medialen Spektrums. Neben Codices sind Rotuli Träger von Genealogien – was angesichts der bekannten Beziehungen zwischen historiographischen Texten und der Präsentationsform der Rollenhandschrift wenig überrascht. Bemerkenswert, doch funktional ebenfalls erklärbar ist eine Sonderform wie die der ›Klosterneuburger Tafeln‹ (Nr. 45.1.1.), die nach den Prinzipien eines blätterbaren Codex konzipiert wurden, aber möglicherweise von vorneherein zur plakatartigen Präsentation an der Wand gedacht waren – und gleichzeitig für eine Druckfassung aufbereitet wurden (Nr. 45.1.a.).